„Beim heutigen Fußball schlafen mir die Füße ein“

von Redaktion

1860-Meisterkapitän Peter Grosser, der heute 80 wird, über große Jahre, schwache Funktionäre und den aktuellen Mangel an Spielkunst

München – Peter Grosser kennt die Bundesliga von ihrer Geburtsstunde an. Bereits am ersten Spieltag (24. August 1963) der damals neugegründeten Eliteliga war er mit von der Partie (1860 – Braunschweig 1:1). Der gebürtige Münchner war in der Folgezeit eine der prägenden Spielerpersönlichkeiten des TSV 1860. Beim Gewinn der Meisterschaft 1966 war er Löwen-Kapitän. Als langjähriger Trainer und Funktionär gab Grosser zudem der SpVgg Unterhaching entscheidende Impulse. Profiliert hat sich der frühere Spielmacher auch als kritischer Geist. Heute feiert Peter Grosser seinen 80. Geburtstag. Wir sprachen mit ihm über den Fußball von einst und jetzt.

-Peter Grosser, wie war das damals vor 55 Jahren, als der Profi-Fußball in Deutschland quasi laufen lernte?

Das war ein ungeheurer Schritt. Plötzlich konnte man von dem Hobby Fußball leben. Und als junger Spieler war es natürlich ein Traum am Vor- und Nachmittag zu trainieren, also das Hobby zum Beruf zu machen.

-Wie hoch war Ihr erstes Gehalt?

Es gab 500 Mark Fixum. Zudem bekamen wir Prämien. Für den Sieg gab es 200 Mark. Die vom DFB vorgeschriebene Höchstgrenze war 1200 Mark. Mehr durfte man nicht verdienen. Aber das war trotzdem ein ganz interessantes Gehalt, davon konnte man sehr gut leben.

-War damals schon zu erahnen, dass sich der Fußball eines Tages zur milliardenschweren Branche entwickeln könnte?

Überhaupt nicht. Durch die Bundesliga erhielten wir zwar mehr Aufmerksamkeit. Aber es gab noch keine Trikotwerbung, keine Fernsehgelder. Die einzige Einnahmequelle waren die Eintrittsgelder für die Heimspiele.

-Aus heutiger Sicht ebenfalls nur schwer vorstellbar war ein Ereignis im Jahre 1966: Der TSV 1860 gewann die deutsche Fußball-Meisterschaft. Sie waren Kapitän der Meisterlöwen. Wie sehr hat das Ihr Leben geprägt?

Ich würde es so sagen: Es ist ein schöner Nebeneffekt, der einzige Löwe zu sein, der die Meisterschale überreicht bekommen hat – und wahrscheinlich wird das noch länger so sein. Die Saison war meine erfolgreichste. Ich feierte das Debüt in der Nationalmannschaft, schoss 18 Tore als Mittelfeldspieler.

-Der Titelgewinn gilt bis heute als Sternstunde der Sechziger. Auf den Fotos, auf denen Sie mit der Meisterschale zu sehen sind, schauen Sie aber eher ernst aus …

Das war für mich nicht so wie heutzutage, wo man auf die Knie fällt, jubelt, schreit. Mir war da gar nicht richtig bewusst, was alles passiert ist.

-Einen ganz großen Moment auf dem Spielfeld hatten Sie beim legendären Spiel 1966 in Dortmund. Vorletzter Spieltag, die Borussia lag an der Tabellenspitze vor den punktgleichen Sechzigern. Mit Ihrem Tor zum 2:0, bei dem Sie die Dortmunder Abwehr austanzten, machten Sie die Meisterschaft praktisch perfekt …

An dieses Tor werde ich sogar heutzutage noch von Augenzeugen erinnert. Das ist wirklich unglaublich, dass Sechziger-Fans Dinge, die vor über 50 Jahren passierten, noch bis ins letzte Detail erzählen können. Da sind Einzelheiten dabei, die selbst mir nicht mehr geläufig sind.

-Sie hätten 1966 sogar die Chance gehabt, an der WM in England teilzunehmen, wo es Deutschland bis ins Finale schaffte. Bundestrainer Helmut Schön wollte Sie nominieren, nach Unstimmigkeiten sind Sie aber lieber in den Urlaub nach Italien gefahren. Ein großer Fehler?

Im Nachhinein gesehen war es mit Sicherheit ein Fehler. Aber wenn du aus dem Rathaus kommst, bist immer gescheiter. Die Situation war damals eben so, dass ich zuvor von Helmut Schön keine Anerkennung erhalten hatte.

-Sie waren beim alles entscheidenden WM-Qualifikationsspiel in Schweden eingesprungen und leiteten das Siegtor ein. Der Torhüter klatschte Ihren Schuss ab, Uwe Seeler grätschte den Ball zum 2:1 ins leere Tor. In den darauffolgenden Länderspielen setzte Schön dann zunächst wieder auf andere Mittelfeldspieler …

Dabei war das eine entscheidende Aktion für den deutschen Fußball. Das ist aber nie so richtig anerkannt und wahrgenommen worden. Sogar später noch bei Rückblicken über Uwe Seeler ist vor allem dieses Spiel und dieses Siegtor oft im Fernsehen gekommen. Hervorgehoben wurde aber immer wieder nur das Tor von Uwe. Das hat mich immer etwas geärgert. Wir sind doch in Schweden als absolute Außenseiter angetreten. Die etablierten Mittelfeldspieler – Wolfgang Overath, Günter Netzer und Helmut Haller – hatten alle irgendwie eine Ausrede. Und dann habe ich als Debütant das Siegtor eingeleitet.

-1969 kehrte Sie den Löwen den Rücken. Wie kam’s dazu?

Man gab mir keinen neuen Vertrag mehr, obwohl ich im besten Fußballeralter war und die Mannschaft unbedingt einen Spielmacher gebraucht hätte. Aber das lag halt an einer schon damals komischen Vereinsführung.

-Der Niedergang der Blauen zeichnete sich damals schon ab …

Ja, ganz extrem. Es fehlte an Experten in der Führung. Das war schon bei unseren großen Erfolgen der Fall. Der Präsident Adalbert Wetzel war zwar ein feiner Mensch, aber von Fußball hatte er nicht viel Ahnung. Und dann hatten wir noch zwei Vizepräsidenten: der eine war Turner, der andere Leichtathlet. Das ist dann so weitergegangen, bis sich Politiker in diesen Gremien festsetzten, die aber noch weniger Ahnung hatten.

-Man hat also die damalige Vormachtstellung verschenkt?

Mit Sicherheit. Den Vorsprung, den Sechzig vor Bayern hatte, hat man sträflich vernachlässigt.

-Ins Grünwalder Stadion sind Sie 1982 zurückgekehrt – und zwar als Trainer der SpVgg Unterhaching, die Sie von der Bezirksliga bis in die Bayernliga, die damals dritthöchste Spielklasse, führten. 1860 hatte gerade einen Zwangsabstieg hinter sich, schon am zweiten Spieltag stand das Derby an, Unterhaching gewann souverän mit 2:0. Das war wohl eine große Genugtuung für Sie.

Ja, freilich. Eine kleine Geschichte dazu: Da gab es eine private Wette mit einem Freund. Der sagte, gegen Sechzig werdet ihr keine Chance haben. Die Wette lautete: Pro Punkt Unterschied gibt es eine Flasche Champagner. Am Ende hatte Haching 24 Punkte mehr – und das im alten Zwei-Punkte-System.

-Sie werden ja vor allem als Meisterlöwe wahrgenommen. Dabei ist Unterhaching zu Ihrer sportlichen Heimat geworden. Sie fungierten dort elf Jahre als Trainer, waren 21 Jahre Vizepräsident. Was sind Sie nun: Ein Blauer? Oder ein Rot-Blauer?

Schwierig zu sagen. Ich habe Unterhaching mitaufgebaut. Auf der anderen Seite hatte ich bei Sechzig die größten Erfolge. Da schlagen schon zwei Herzen in meiner Brust.

-Können Sie sich denn noch für den heutigen Fußball begeistern?

Sehr schwer. In den letzten Jahren hat man sich immer mehr auf die Ballbesitzfußball konzentriert. Das ist teilweise ein Fußball, bei dem einem die Füße einschlafen. Da wird der Ball 25 Mal von links nach rechts und umgekehrt gespielt, ohne dass man vom Gegner angegriffen wird. Dafür habe ich kein Verständnis. Leider sind sie auch in der deutschen Nationalmannschaft zu spät darauf gekommen, dass der ständige Ballbesitz nicht mehr das Wahre ist.

-Wie würden Sie spielen lassen?

Man muss mehr Situationen vor dem gegnerischen Tor produzieren. Wenn ich pro Halbzeit vielleicht drei, vier Flanken vors Tor schlage, ist die Chance, ein Tor zu erzielen, relativ gering. Mit Doppelpässen vors Tor zu kommen, ist bei diesen stabilen Abwehrreihen kaum noch möglich. Man muss versuchen, den Ball so schnell wie möglich in den gegnerischen Strafraum zu bringen. Dazu brauche ich mindestens zwei Sturmspitzen. Und nicht nur eine, wie es heutzutage meistens der Fall ist.

-Sie vermissen ja schon seit längerem Spieler mit gutem Dribbling …

Es gibt nur noch ganz wenige deutsche Fußballer, die einen Gegenspieler noch umspielen können. Solche Leute können Sie bei uns mit der Hand abzählen. Aber genau diese Qualität ist wichtig, um zum Erfolg zu kommen.

-Sie haben zuletzt ausnahmsweise die Spielerweise der aktuellen 1860- Mannschaft gelobt. Das war in den vergangenen Jahren nur sehr selten der Fall. Trauen Sie den Sechzigern zu, eines Tages wieder erstklassig zu werden?

Mit der jetzigen Konstellation im Verein nicht. Gelobt habe ich ausdrücklich nur die sportliche Leitung. Aber der Führung des Vereins traue ich nicht zu, dass in naher Zeit erfolgreich Fußball gespielt wird. Denn: Ohne ein geeignetes Stadion geht gar nichts. Mit einer Kapazität von 15 000 Zuschauern kann ich nicht genügend Geld verdienen. Zur WM 2006 in Deutschland sind die Stadien neu gebaut oder renoviert worden, deswegen sind die Stadien auch alle voll. Sechzig aber ist der einzige Verein, der von einem Top-Stadion in eine marode Bruchbude zurückging. Das halte ich für fatal und unverantwortlich dem Verein gegenüber.

-Wie feiern Sie denn Ihren Geburtstag, haben Sie die noch lebenden Meisterlöwen eingeladen?

Nein, das war in den vergangenen Jahren auch nicht üblich. Ich bin grundsätzlich kein Feierbiest. Allzu viel zu feiern gibt es bei mir sowieso nicht. Das wird in ganz kleinem Kreise mit einem kleinen Essen passieren. Ich war noch nie einer, der bei solch einer Gelegenheit besonders auf den Putz gehauen hätte.

Das Interview führte Armin Gibis

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