Charakter vor Qualität

von Redaktion

Müssen wir uns Sorgen machen? Ja, sagt Oliver Bierhoff. Als DFB-Direktor Nationalmannschaften wolle er zwar „kein Untergangsszenario“ entwerfen, allzu optimistisch stimme ihn aber nicht, „was in vier, fünf Jahren nachkommt: Wir sehen im U15- oder U16-Bereich, dass es dort immer weniger potenzielle Ausnahmespieler gibt.“ Irgendwas läuft schief im deutschen Nachwuchsfußball, Mehmet Scholl hat den Finger schon in die Wunde gelegt, bevor die WM 2018 in einem Debakel endete und nun in der Champions League drei deutsche Klubs ziemlich chancenlos waren gegen die Konkurrenz aus England.

Mehmet Scholl war ein kreativer Fußballer, unberechenbar, fintenreich, frech und technisch stark. Als junges Talent wollte Scholl „immer nur spielen, spielen, Tore schießen, Titel und Meisterschaften waren mir gar nicht so wichtig.“ In Junioren-Nationalteams wurde er nie berufen, in der B-Jugend des Karlsruher SC war er oft nur Ersatz. Zu verspielt der junge Mann, diese Eigenschaft aber, später gepaart mit brutalem Ehrgeiz und Disziplin, hat ihn zu einem Ausnahmefußballer gemacht.

Heute, fürchtet Scholl, werden schon die jüngsten Kicker in Systeme gepresst, müssten fest vorgegebene Strategien umsetzen und könnten keine Kreativität entwickeln. Tricks und Dribblings dürften sie nicht mehr ausprobieren, stattdessen würden ausschließlich Taktik, Passspiel, Strategie und Athletik trainiert. Sie würden „glatt gebügelt“, hat Scholl kritisiert. Und ist damals heftig kritisiert worden.

Vermisst wird die Bolzplatzmentalität

Inzwischen aber kommen von Bierhoff und Joti Chatzialexiou ganz ähnliche Töne: „Wir bilden nicht altersgerecht aus, wir müssen den Kindern wieder Spaß am Fußball vermitteln“, sagt der sportliche Leiter der deutschen Nationalteams. Plötzlich ist wieder von Bolzplatzmentalität die Rede, von Individualisierung. Die Nachwuchsleistungszentren, Basis für den WM-Triumph von 2014, gelten als reformbedürftig, weil sie zwar auf sportwissenschaftlich höchstem Niveau arbeiten, die Talente aber viel zu früh wie Profis trainiert werden. Athletisch und taktisch top, was aber ist mit Technik, Persönlichkeit und Mentalität?

Ein Umdenken hat eingesetzt, schon gibt es hoffnungsvolle Ansätze. Und das ist gut so. Aber darf es im Nachwuchsfußball in erster Linie nur darum gehen, den nächsten Messi herauszubringen?

Wir sind bei der SpVgg Unterhaching. Dort hat man, als Drittligist freiwillig, ein Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) installiert, das vom DFB zertifiziert ist. „Das kostet“, sagt Manni Schwabl, der Präsident, „aber unser Ansatz ist, auf die Jugend zu setzen“, auf eigene Ausbildung: „Wir wollen möglichst viele von der U10 nach oben durchbringen, nicht immer vorschnell aussortieren, Jahr für Jahr elf Neue holen.“ Vor knapp vier Jahren, nach dem vorübergehenden Abstieg in die Regionalliga, „haben wir drei hauptamtliche Jugendtrainer eingestellt“, sagt Schwabl. Man habe zu säen begonnen und durfte im letzten Sommer schon mal ernten, als das damals 16-jährige Toptalent Karim Adeyemi, mit zehn nach Haching gekommen, für drei Millionen nach Salzburg verkauft werden konnte. „Andere hätten bei einem Abstieg erst mal bei der Jugend gespart. Wir machten das Gegenteil.“

Unterhaching sieht sich, in geografischer Konkurrenz zum großen FC Bayern und den Münchner Löwen, als der etwas andere Verein. Bei uns, sagt Schwabl, „heißt es: Charakter vor Qualität“. Der Ex-Profi sieht den Verein in der Verantwortung, „wir wollen in erster Linie Persönlichkeiten ausbilden, schließlich kann längst nicht jeder Profi werden.“ Bodenständigkeit ist Schwabl wichtig, „bei uns spielt keiner mit Ohrring, Pferdeschwanz oder Rollkoffer.“ Adeyemi hat es ihm nicht immer leicht gemacht, Schwabl hat ihm die Alternativen aufgezeigt: „Aubameyang oder Müllabfuhr“, es liegt an dir. Wenn die Hausaufgaben nicht gemacht waren, gab es kein Training, ohne Training kein Spiel. „Nicht mal 14 Tage hat er das durchgehalten.“ Dann hat er sich gefügt und ist gereift. Als Fußballer und Mensch.

Auch das Umfeld muss passen

„Nur so hast du eine Chance, ganz oben anzukommen“, Schwabl weiß aber, dass das nur funktioniert, wenn auch das Umfeld passt. „Ohne Eltern und Berater, die einen am Boden halten, geht alles ins Leere.“ Gerade die Mütter würden immer schwieriger, „da wechselt ein Bub, weil der neue Verein so ein tolles Stadion hat und sich die Mami schon beim Prosecco im VIP-Raum sieht.“

Das ist eines der Probleme im deutschen Nachwuchsfußball, es ist ein Hype um Talente entstanden, der eine normale Entwicklung erschwert. Dabei ist Mentalität fast wichtiger als Talent. Neulich hat sich Schwabl die Zeugnisse seiner U10- und U11-Spieler geben lassen, „beim ersten habe ich gleich bei der sozialen Bewertung gewusst, das wird nichts mit dem Profi.“ Ohnehin müsse man ganz genau hinschauen, ob ein Bub wirklich selbst will oder nur der Vater, der selbst keinen Ball getroffen hat. „Dann macht es keinen Sinn, der Aufwand, den ein Kind in einem NLZ zu bewältigen hat, ist riesig. Auch für die Familie.“

Das schafft nur, wer Spaß an der Sache hat. Auch beim DFB denkt man nun in die Richtung, die Mehmet Scholl eingefordert hat. Denn Talente, das weiß auch Bierhoff, gibt es genug in Deutschland. „Aber aus diesen Talenten Ausnahmespieler zu machen, die in der Weltspitze bestehen können, ist die große Herausforderung.“ Nun will man schon ganz unten ansetzen, im Kinderfußball. Angedacht sind neue Spielformen, um mehr „Freigeiste“ zu entwickeln, kleinere Spielfelder, Mini-Teams, damit mehr Ballkontakte, weniger taktisches Geplänkel.

Der Bayerische Fußball-Verband hat gerade seinen jährlichen Talentsichtungstag neu konzipiert, künftig melden nicht mehr die Eltern, sondern die Vereinstrainer ihre begabtesten Spieler. In kleinen Teams, etwa beim „Vier- gegen-Vier“, sollen sie ihr Talent zeigen, im Kreis ihrer Freunde, nicht mehr als Einzelspieler in speziellen Trainingseinheiten. „Ganz gezielt binden wir ab sofort auch die Vereine stärker als bisher mit ein. Künftig entscheiden die Trainer und Betreuer, welche Talente sie mit zum Talentsichtungstag nehmen – sie kennen die Spielerinnen und Spieler aus Training und Spielbetrieb schließlich am besten und können wesentlich objektiver entscheiden als beispielsweise Mütter oder Väter“, soVerbandsjugendleiter Florian Weißmann die Neuerung.

Nur wenige schaffen es zum Profi

Die Talentiertesten werden dann am DFB-Stützpunkt weiter gefördert, einige wechseln später in die Nachwuchsleistungszentren der Bundesligisten und dürfen ihren Traum vom Profifußball träumen. Wobei es nur ein ganz kleiner Prozentsatz schaffen wird, auch das sollte jedem, vor allem Eltern, bewusst sein. Wer aber später nicht vom Fußball leben kann, sollte dennoch profitieren.

Wir sind zurück in Unterhaching. Wer dort als Profi spielt, hat meist auch einen „normalen“ Job. Manni Schwabl hält das für essentiell, „sonst verblödet man doch.“ Der Verein pflegt Kooperationen, zur Fachhochschule Erding oder zu verschiedenen Ausbildungsbetrieben. Und die, sagt Schwabl, „sind froh, wenn sie Leute von uns bekommen, die geprägt sind vom Leistungssport, zuverlässig, diszipliniert. Die Unternehmen schätzen das.“ Und bestimmt ist, wer nicht ausschließlich auf den Fußball setzt, auch nicht so sehr unter Druck, kann mehr Kreativität, mehr Freude am Spiel entwickeln. Und zur Persönlichkeit reifen.

Es geht um die Zukunft des deutschen Fußballs. Vor allem aber um die Zukunft junger Menschen. Manni Schwabl sagt: „Wer nur auf den Fußball schaut, hat den Sinn eines Vereins nicht verstanden.“ Jugendarbeit ist für ihn weit mehr als nur Ausnahmespieler zu produzieren. Wenn aber dabei einer wie Karim Adeyemi rauskommt, umso besser.

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