Erinnern Sie sich an das Gelb-Fieber? Also an jenes Phänomen, von dem vor allem im Monat Juli regelmäßig die Rede war. Nun, das ist schon lange her. Vor gut zwei Jahrzehnten fing es an. Damals befanden sich die Radsportfans hierzulande tatsächlich im Ausnahmezustand, nahmen während der Tour de France bei Bergetappen frei, um vor dem Fernseher mit Jan Ullrich, dem Mann in Gelb, zu zittern. Der Tour-Sieger von 1997, der jahrelang zu Velo-Euphorie inspirierte, ist mittlerweile tief gefallen. Und das oben genannte Fieber wich zwischenzeitlich dem Entsetzen über die Doping-Umtriebe in dieser Branche. Ein Schock, der nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Der Radsport ist nicht wenigen – aufgrund seiner dunklen Vergangenheit – immer noch suspekt. Aber er hat seine Dopingkrise einigermaßen überwunden. Und es mehren sich derzeit auch hierzulande die Anzeichen dafür, dass zumindest so etwas eine maßvolle Begeisterung um die Tour aufkeimen könnte.
Sicher, der legendäre Trip durch Frankreich sorgte auch in den letzten Jahren für gewisse Aufmerksamkeit. Was vornehmlich an den zahlreichen Etappensiegen der deutschen Sprinter Kittel und Greipel lag. Doch derlei Erfolge sind bei der Tour eben mehr oder weniger nur schmückendes Beiwerk. Für das wahre Epos, das Drama sorgen die Klassementfahrer. Sie ziehen das Publikum in den Bann, indem sie den Spannungsbogen drei Wochen lang von den Pyrenäen bis zu den Alpen ziehen. Und da gab es in der jüngeren Geschichte nur Jan Ullrich und mit Abstrichen Andreas Klöden. Aber spätestens seit den letzten Bergetappen wächst in deutschen Velo-Kreisen die berechtigte Hoffnung, dass da ein neuer potenzieller Tour-Held heranwächst: Emanuel Buchmann fuhr in so eindrucksvoller Manier über die Pyrenäen, dass ihm auch in den Alpen schneidige Bergtouren zuzutrauen sind. Für den Fan ein Grund zur Freude
Für ihn spricht nicht nur das Klettertalent, die Topform, sondern auch sein angenehm dezentes Auftreten, mit dem er auch sein aus bescheidenen Anfängen geformtes Boar-hansgrohe-Team bestens repräsentiert. Im Laufe eines Jahrzehnts hat sich der Rennstall aus Oberbayern – schweren Zeiten trotzend – kontinuierlich zu einer Top-Adresse entwickelt.
Buchmann ist jedenfalls neben dem Franzosen Alaphilippe der Überraschungsmann dieser Tour. Und es ist nicht auszuschließen, dass er in dieser Woche für verstärktes Aufsehen sorgen wird. Noch im Vorjahr, als er Zwölfter bei der Vuelta wurde, kannten ihn nur die Experten. Es wäre also schon ein kleines Sportwunder, wenn es der Ravensburger in Paris aufs Podium schaffen würde. Doch große Leistungssprünge führen in dieser Sparte zwangsläufigen zu kritischen Fragen und Vorbehalten. Auch wenn das im Einzelfall unberechtigt sein mag: Der Radsport muss – aus guten Gründen – mit dem Zweifel leben.
Armin.Gibis@ovb.net