Bis gestern Abend 20 Uhr schien der Fall eindeutig: Naomi Osaka probt den Aufstand gegen die Organisatoren der French Open und will nicht von ihrem Standpunkt abrücken, dieses Jahr in Paris alle Medientermine zu boykottieren. Schon in der Vergangenheit fiel die Japanerin mit Aktionen jenseits vom reinen Aufschlag und Return auf. Ein unbequemer Querkopf in seiner selbst geschaffenen Rolle.
Doch dann um 20 Uhr schickte Osaka eine persönliche Erklärung via Twitter um die Welt. Und die hat es in sich. Erster Hammer: Sie zieht beim wichtigsten Sandplatzturnier des Jahres zurück. Und der zweite Hammer: Sie leide seit 2018 immer wieder unter Depressionen und wolle ihre Gesundheit mit ihrem Rückzug schützen. Damit verlässt die 23-Jährige das Terrain der politischen Aktivistin für aus ihrer Sicht gerechtfertigte Anliegen und begibt sich öffentlich in den sensiblen Bereich der psychischen Erkrankungen bei fürstlich entlohnten Profisportlern. Ein mutiger Schritt.
In den nächsten Tagen wird sich zeigen, wie weit Fans und Öffentlichkeit im Umgang mit solchen Diagnosen sind. Stehen wir es einem global gefeierten Sportidol im Jahr 2021 zu, dass auch ihre Seele verletzt sein darf? Oder lautet das Urteil: Der jungen Frau geht es so gut (geschätztes Jahreseinkommen 37 Millionen Dollar), die soll sich mal nicht so anstellen? Die Erfahrung aus den letzten Jahren zeigt, dass eher Zweiteres zu befürchten ist. Im Umgang mit psychischen Problemen ist eine gesteigerte gesellschaftliche Sensibilität nur scheinbar vorhanden.
So poppt das Thema zu jedem Todestag des ehemaligen Nationaltorwarts Robert Enke mal wieder auf und Politiker, ehemalige Mitspieler oder Fans-Organisationen rufen zu mehr Toleranz für das Krankheitsbild auf. Kaum sind diese Sonntagsreden verhallt, werden Sportler aufgrund von schwachen Leistungen wieder auf das Übelste beschimpft. Bevorzugt bei Facebook, Twitter, Instagram und Co.
Hat Naomi Osaka in den letzten Tagen alles richtig gemacht? Nein. Sie hätte ihren Medienboykott früher konkretisieren sollen. Aber dafür ist ihr jetziger Schritt umso bemerkenswerter. Sie ist krank und hat daraus die für ihre Gesundheit besten Schlüsse gezogen.
Das verdient Respekt und Anerkennung.
Gute Besserung, Naomi Osaka.
Daniel.Mueksch@ovb.net