München – Moritz Anderten (39) arbeitet am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln. Der Sportpsychologe betreut unter anderem die Judoka und Turner, die an den Olympischen Spielen teilnehmen. Im Interview mit unserer Zeitung spricht Anderten über Visualisierungstechniken, neuronale Netzwerke und die psychologischen Auswirkungen der besonderen Spiele in Tokio.
Herr Anderten, immer mehr Sportler arbeiten mit Visualisierungstechniken. Worum geht es da?
Das Visualisieren ist eine Facette des Mentaltrainings. Der Athlet stellt sich hierbei Bewegungsabläufe vor – beispielsweise Pass- und Laufwege. Die verschiedenen Bewegungen laufen dann wie in einem eigenen Kinofilm vor dem inneren Auge ab. Der Sportler nimmt entweder die Außenperspektive an und beobachtet seine eigenen Übungen. Oder er wählt die Innenperspektive, horcht also in sich hinein und achtet beispielsweise darauf, welche Muskelspannungen bei welchen Bewegungen entstehen.
Welche Effekte entstehen?
Durch das Vorstellen ohne die gleichzeitige Ausführung wird ein neuronales Netzwerk aktiviert und aufgebaut. Wenn die Bewegungen dann motorisch ausgeführt werden, sind die Abläufe schon im Netzwerk abgespeichert und können so vereinfacht abgerufen werden. Bei Verletzungen ist es beispielsweise extrem wichtig, dass die Bewegungen weiter visualisiert werden. Da neuronale Netzwerke sich auch wieder abbauen oder ganz auflösen können. Das merkt jeder, der mal zwei Wochen kein Tennis gespielt hat und dann beinahe wieder bei null anfangen muss.
Wie arbeiten Sie konkret mit den Sportlern?
Die Sportler bzw. die Athleten berichten mir von einer bestimmten Problematik. Dass beim Judo beispielsweise ein bestimmter Wurf nicht funktioniert, ganz egal, wie oft und intensiv dieser trainiert wird. Ein erster Schritt wäre dann, den Wurf in den kleinsten Bewegungsschritten zu skizzieren und aufzuschreiben. Ich leite den Sportler dann an, wie er diese Skizze am besten visualisieren kann. Der Sportpsychologe gibt immer Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn man bestimmte Übungen dreimal am Tag je fünf Minuten visualisiert, entstehen nach einigen Wochen schon deutliche Fortschritte.
Olympia wurde erst verschoben, stand auch dieses Jahr lange auf der Kippe. Was macht das psychologisch mit einem Sportler?
Das war zunächst mal eine totale Schocksituation. Gepaart mit einer gewissen Ungläubigkeit. Viele Sportler wollten auch erst mal nicht wahrhaben, dass ihr großer Traum gerade erst mal abgesagt wurde. Als das verarbeitet war, begann aber die wirklich entscheidende Phase: Wie trainieren wir jetzt ein Jahr lang und konservieren unsere Form, die wir für Olympia aufgebaut haben? Die Absage und anschließende Ungewissheit war ein Worst-Case-Szenario. Viele Karrieren sind vorzeitig beendet worden, da die Motivationsprobleme nicht mehr in den Griff zu bekommen waren.
Wie werden sich die Rahmenbedingungen – strenge Hygienekonzepte, keine Partys im olympischen Dorf – auf die Sportler auswirken?
Das wird interessant zu beobachten sein. Darauf bereiten wir die Sportler gerade intensiv vor. Ein Athlet, der dieses Jahr zum ersten Mal an den Olympischen Spielen teilnimmt, hat keine Vergleichswerte. Für Sportler mit olympischer Erfahrung werden es gerade aus psychosozialer Sicht massiv andere Spiele. Wir müssen den Athleten bewusst machen, dass sie sich seit Jahren in erster Linie auf den reinen Wettbewerb vorbereitet haben. Das olympische Dorf, der Kontakt mit Sportlern aus anderer Welt, der Besuch bei anderen Sportarten fällt dieses Jahr weitestgehend weg. Es wird alles auf die sportliche Leistung reduziert werden. Das kann einerseits dafür sorgen, dass es sportlich vielleicht die hochklassigsten Spiele werden und neue Weltrekorde fallen. Vielen Sportlern wird aber auch die Euphorie von den Rängen fehlen, die oft die letzten Prozente herauskitzeln können.
Sie sind nicht mit nach Tokio geflogen. Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Sportlern während der Spiele aus?
Ich werde auch Nachtschichten einlegen und für die Athleten, mit denen intensive Betreuungsverhältnisse bestehen, immer telefonisch erreichbar sein. Die Sportler werden viel Zeit alleine auf dem Hotelzimmer verbringen. Da ist die reine Unterhaltung in einer vertrauten Atmosphäre erst mal das Wichtigste. Die Sportler sollen auch bei mir Dampf rauslassen. Die Beziehung zum Trainer oder Mannschaftskameraden und die Angst vor dem Wettkampf sind häufige Gesprächsthemen.
Kann man kurz vor dem Wettkampf psychologisch noch etwas retten?
Ad-hoc-Interventionen bringen nichts, wir sind keine Feuerwehrmänner, die mal eben einspringen. Es geht darum, frühzeitig, langfristig und präventiv mit dem Sportler gemeinsame Ressourcen aufzubauen, sodass vor dem Wettkampf dann nur noch ein kleiner Anstoß genügt. Wenn dieses Verhältnis nicht da ist und Sportler vor dem Wettbewerb dann plötzlich alles infrage stellen, ist in der Vorbereitung meist einiges schiefgelaufen.
Sind die Spitzenathleten auch mental alle weltklasse?
Genau so ist es. Das zieht sich über alle Sportarten hinweg. Auf einem Niveau wie bei den Olympischen Spielen treten Athleten an, die absolut austrainiert und auch technisch weltklasse sind. Was entscheidet also, wenn mein Konkurrent neben mir so fit ist wie ich? Es geht darum, wer in der entscheidenden Phase sein eigenes Leistungspotenzial am besten entfaltet. Wer glaubt an sich, wer vertraut am meisten seiner eigenen Stärke? Das entscheidet meist über Sieg und Niederlage.
Interview: Nico-Marius Schmitz