WM und EM in einem Jahr

Als die Leichtathletik noch auf sich achtete

von Redaktion

GÜNTER KLEIN

München steht davor, „das größte Sportereignis seit 1972“ zu beherbergen; das hört man derzeit oft in der Stadt, die sich gerade auf die European Championships, eine Sammlung von Europameisterschaften in neun Sportarten ab dem 11. August, vorbereitet. Wir würden da doch den Finger zum Widerspruch heben: Diese Größenberechnungen sind immer irreführend, weil man sich die Kriterien schön zurechtbiegen kann. Jedenfalls hat es in den vergangenen 50 Jahren doch einiges an Sportveranstaltungen gegeben, die München vereinnahmt haben: zwei Fußball-Welt- und Europameisterschaften, Endspiele in der Champions League, große Derbys, zwei Eishockey-Weltmeisterschaften – und: eine EM in der Leichtathletik, 2002 fand sie statt.

Der European-Championships-Kundige wird einwenden: Wieso sollte diese einzelne EM von vor zwanzig Jahren größer sein als das Gesamtkonstrukt 2022, in dem das Treiben auf der Tartanbahn, den Sprunganlagen und in den Wurfringen ein Programmpunkt ist, der von acht weiteren flankiert wird? Auch hier gilt: Zahlen können täuschen. Denn 2002 hatte die olympische Königsdisziplin Leichtathletik noch einen großen Vorteil: Sie achtete auf sich. Es gab klar definierte WM- und EM-Jahre. EM war alle vier Jahre, und das passte: Die EM war eine schöne kleine Insel für Athletinnen und Sportler, die auf Welt-Ebene gegen Sprinterinnen aus der Karibik und Nordamerika oder gegen die afrikanischen Langstreckler keine große Chance hatten. Die EM ließ diejenigen glänzen, die es als Vorbilder braucht, um die Leichtathletik auf ihren kleineren Märkten am Leben zu halten.

Seit 2012 bespielt die European Athletic Association auch die Olympia-Jahre, stellt sich in den Schatten eines viel wuchtigeren Events, macht sich selbst dadurch kleiner. 2022 kommt noch die WM als Konkurrent dazu – was einerseits Folge einer Corona-Verschiebung ist, jedoch auch damit zu tun hat, dass der Austragungsort Eugene ist, wo Nike, der wichtigste Sponsor in der Leichtathletik, gegründet wurde. Da zieht man ein Event eben durch – auch wenn es zulasten eines anderen geht.

Das Jahr 2022 stürzt vor allem deutsche Leichtathleten in ein Dilemma. Gegenüber dem Standort München und der heimischen Szene haben sie eine moralische Verpflichtung zur Topleistung – doch der logische Jahreshöhepunkt ist nun mal die WM einen Monat davor. Gesund ist das gewiss nicht.

Guenter.Klein@ovb.net

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