ZUM TAGE

Triumph über das Schicksal

von Redaktion

Phänomen Simone Biles

Um zu verstehen, wie groß dieser olympische Moment vom Dienstagabend war, reichte ein Blick auf die Tribüne der Pariser Bercy Arena. Da saßen Hollywood-Stars wie Natalie Portman und Nicole Kidman, da saß Microsoft-Mitgründer Bill Gates, da saßen Sportgrößen wie Fürst Albert II. von Monaco, Michael Phelps und Serena Williams. Sie alle waren gekommen, um acht Gerätturn-Teams beim Springen, Fliegen und Schrauben zu bewundern. Vor allem aber waren sie gekommen, um derjenigen, die in diesem wohl ästhetischsten olympischen Sommersport seit Jahren das Maß aller Dinge ist, dabei zuzusehen, wie sie beim Gewinn ihres insgesamt fünften Olympia-Goldes über ihr eigenes Schicksal triumphiert. Simone Biles ist selbst für andere Superstars: ein Phänomen, das seinesgleichen sucht.

„We did it“, riefen sich die US-Girls nach dem finalen Akt zu, und man konnte den Stein, der ihnen allen direkt im Anschluss an die grandiose Bodenkür ihrer Überfliegerin vom Herzen fiel, fast hören. Als „Wiedergutmachungstour“ hatten die Protagonistinnen von „USA Gymnastics“ die Spiele von Paris nach dem enttäuschenden Silberrang von Tokio bezeichnet, im Fokus dieser Mission stand die Personalie Biles. Wieder Druck, wieder One-Man-Show, wieder psychische Probleme? Von wegen! Drei Jahre nach dem düstersten Moment ihrer Karriere, an dem sie die sogenannten „Twisties“ im Kopf zum Aufgeben gezwungen hatten, wollte die heute 27-Jährige sich, der Welt und vor allem dem krankenden System Kunstturnen beweisen, dass es auch anders geht. Dass man aufstehen kann, wenn man am Boden liegt; dass man sich seine Leidenschaft nicht nehmen lassen muss; dass jeder seinen Weg so gehen kann, wie es für ihn am besten ist. Das ist eindrucksvoll gelungen.

Wer Biles dieser Tage verfolgt, sieht eine andere Person als auf den olympischen Podien von 2016 und vor allem 2021. Zwar lässt sie diesen Sport, der so viel Disziplin, Verzicht und Schmerz verlangt, schon immer so unfassbar leicht wirken. Hinter der Fassade aus Makeup, Haarschleife und Glitzer-Dress aber hat sich lange Zeit eine gebrochene Persönlichkeit verborgen. Das Leid, das sie wie hunderte weitere Turnerinnen durch langjährigen Missbrauch des ehemaligen Teamarztes Larry Nassar erfahren musste, hat sie über die MeToo-Bewegung in Motivation umgewandelt. In Paris strahlt Biles nun aus, was sie im Rahmen einer Netflix-Doku jungen Kolleginnen zuruft: „Achtet immer darauf, Spaß zu haben!“ Ihr eigener Spaß ist ansteckend – für Kinder und Stars auf der Tribüne. Hanna.Raif@ovb.net

Artikel 1 von 11