Zweieinhalb Jahre nach dem Zugunglück

„Mein Leben ist nicht mehr meins“

von Redaktion

Die Bilder des Aiblinger Zugunglücks lassen sie nicht los. Die Schreie der Menschen sowie die Albträume sind nach wie vor präsent. Trotz Traumatherapie: Das Leben von Gisela Brühl ist aus den Fugen. Zugfahrten und Menschenmengen sind tabu. Die Haftentlassung des Fahrdienstleiters und die Haltung der Deutschen Bahn ließen sie jetzt ihr Schweigen brechen.

Bad Aibling – Körperlich ist der Aiblingerin an jenem 9. Februar 2016 bis auf ein Schleudertrauma nichts passiert. Doch unter den psychischen Folgen leidet Brühl immer noch. Sie ist mit 57 Jahren im Vorruhestand, nicht mehr belastbar, die Konzentrationsfähigkeit gleich Null. Sie ist in einer speziellen Traumatherapie, betont, sie habe eine hervorragende Therapeutin. Aber Wunder könne auch diese nicht vollbringen: Das Unglück ist jeden Tag präsent.

Gisela Brühl befand sich auf dem Weg zur Arbeit in einem der beiden Züge, die an jenem Tag auf offener Strecke zwischen Bad Aibling und Kolbermoor zusammenstießen. „Einem glücklichen Umstand habe ich zu verdanken, dass ich an diesem Tag anstatt im ersten im zweiten Waggon saß. Dieser ist auch entgleist, und das Rattern während der Entgleisung, das laute Quietschen der Bremsen, das Aufschlitzen des Zuges, die komplette Dunkelheit im Zug sowie draußen verfolgen mich noch heute“, schildert sie im Gespräch mit unserer Zeitung.

Die Berichte über die Haftentlassung des wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung verurteilten Fahrdienstleiters (er war während der Arbeit durch ein Handyspiel abgelenkt; zwölf Menschen starben, über 80 wurden verletzt) haben sie nun veranlasst, an die Öffentlichkeit zu gehen. „Ich hätte wegen all der Auswirkungen des Unfalls allen Grund, auf den Fahrdienstleiter wütend zu sein oder ihn anzuprangern, denn mein Leben ist nicht mehr meins. Doch ich möchte mich für den Mann einsetzen. Niemals war ich wütend auf ihn oder habe ihn verurteilt. Vielleicht sehen das die Angehörigen der Toten oder auch die Schwerverletzten, die womöglich neben den psychischen Folgen auch körperliche Beeinträchtigungen haben, anders. Doch für mich ist die Deutsche Bahn die Hauptschuldige des Zugunglücks und muss zur Rechenschaft gezogen werden. Ansonsten geht mein Gerechtigkeitssinn verloren.“

Der Fahrdienstleiter ist in ihren Augen sein Leben lang mit der Verarbeitung seines fahrlässigen Fehlers und den schwerwiegenden Folgen befasst. Sie gibt zugleich zu bedenken: „Wer von uns kann sich freisprechen, während des Autofahrens nicht mal unachtsam und so abgelenkt zu sein, dass dadurch ein schwerer Verkehrsunfall verursacht werden könnte?“ Die Deutsche Bahn hingegen wasche ihre Hände in Unschuld. „Die eigentlichen Verantwortlichen haben ihr Bauernopfer gefunden.“

Die Frage, die sich neben vielen anderen Menschen auch die Aiblingerin immer wieder stellt, ist: „Wie kann es sein, dass ein einziger Mensch zwei Züge in voller Fahrt zusammenprallen lassen kann? Bei der heutigen Sicherheitstechnik? Selbst im Flugverkehr gibt es das sogenannte T-Cas-System, das verhindert, dass zwei Flugzeuge in der Luft zusammenstoßen. Bei Autos gibt es das doch auch schon. Und bei der Deutschen Bahn soll so was nicht existieren?“

Antworten hätte sie auch gerne auf die Frage, wie es sein könne, „dass es im Büro des Fahrdienstleiters in Bad Aibling zwei Notrufknöpfe gibt, einen für die Fahrdienstleiter im Umkreis und einen für die Lokführer“. Hierzu teilte die Deutsche Bahn gestern mit, dass die Details zum Unfallgeschehen sehr ausführlich im Gerichtsverfahren beleuchtet worden seien. Eine Sprecherin verweist auf das Urteil, in dem es unter anderem heiße: „Die Stellwerkstechnik hat funktioniert und die Gegenfahrt der beiden Züge nicht zugelassen. Der Angeklagte hat vielmehr durch zweimaliges Setzen des Sondersignals Zs1 grob fehlerhaft in die funktionierende Stellwerkstechnik eingegriffen und die Sicherungsmechanismen damit außer Kraft gesetzt.“

„Maßnahmenpaket

entwickelt“

Auf Brühls Vorwurf, die Deutsche Bahn stecke ihr Geld lieber in schnellere und mehr ICEs, „anstatt sich um unsere kleine Bahnstrecke zu kümmern und diese mit entsprechenden Sicherheitssystemen auszustatten, die einen Zusammenstoß zweier Züge auf eingleisiger Strecke verhindern“, betont die Sprecherin: „Neben der fortlaufenden technischen Modernisierung der Anlagen im Schienennetz erhöhen wir permanent die Handlungssicherheit unserer Mitarbeiter. Dafür ist in den vergangenen Jahren – und gezielt auch nach dem Unglück in Bad Aibling – ein Maßnahmenpaket in Abstimmung mit der Aufsichtsbehörde entwickelt worden.“ Dazu gehören nach Angaben der DB konkret auch regelmäßiges Simulatortraining für Fahrdienstleiter, die Modifizierungen bei Aus- und Weiterbildung sowie die weitere Intensivierung der Kontrollen.

Doch das ändert nichts daran, das Brühls Leben nicht mehr so ist, wie es war: „Vor dem Zugunglück hatte ich einen tollen Job in einer Führungsposition, der mir viel Freude bereitet hat. Nette Kollegen, mit denen ich viel Spaß hatte. Ich bin Mitglied beim FC Bayern, Spiele in der Allianz Arena habe ich mir in meinem Trikot und in einem ganz persönlichen Schal gern angeschaut und mitgefiebert. Die Rückfahrt in der brechend vollen U-Bahn war nie ein Problem für mich. Heute unmöglich.“

Auch das Rosenheimer Herbstfest hat Gisela Brühl geliebt. „Ich war immer da, in meinem Dirndl. Voriges Jahr habe ich versucht, eine Runde über den Platz zu laufen, ins Zelt bin ich gar nicht gegangen. Ich bekam Schweißausbrüche und Herzrasen und musste den Platz tieftraurig wieder verlassen“, schildert sie.

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