Bad Aibling/Rosenheim – Zwölf Menschen kamen vor sieben Jahren, am 9. Februar 2016, beim Zugunglück bei Bad Aibling ums Leben. Der Leiter der katholischen Notfallseelsorge Rosenheim, Thomas Jablowsky, erklärt im Interview, wie viele Menschen im Landkreis auch nach langer Zeit noch darunter leiden.
Herr Jablowsky, wenn Sie an ein Zugunglück wie das bei Bad Aibling denken, was kommt Ihnen als Notfallseelsorger als Erstes in den Sinn?
Wie viele Menschen davon betroffen sind, an die man zuerst gar nicht denkt. Denn bei einer sogenannten Großschadenslage geht es nicht nur um die Fahrgäste. Da sprechen wir von Angehörigen, Mitarbeitern, Lokführer, Fahrdienstleiter, Passanten und sogar von Eltern, deren Kinder normalerweise im Zug hätten sitzen müssen, glücklicherweise aber an diesem Tag Ferien hatten. Wenn man darüber nachdenkt, zieht das ungeahnt weite Kreise.
Können Sie alle Beteiligten überhaupt versorgen?
Im Fall von Bad Aibling, nein. Das ist zu viel. Wir haben mit dem Bayerischen Roten Kreuz, den Johannitern und der katholischen sowie der evangelischen Kirche zwar drei Anlaufstellen für die psychosoziale Notfallversorgung (PSNV). Aber allein unsere Stelle hat aktuell nur etwa 15 Seelsorger. Da braucht es dann bayernweite Unterstützung über die Zentralstelle der PSNV.
Wie sieht Ihr Einsatz bei so einem Zugunglück aus?
Der Ausgangspunkt ist immer eine Nachricht von der Leitstelle. Das heißt, wer die 112 wählt, kann im Prinzip auch immer einen Notfallseelsorger rufen. In so einem großen Fall ist der erste Schritt eine gute Organisation. Wir stürzen uns nicht auf den Erstbesten, sondern verschaffen uns zunächst, in Zusammenarbeit mit Polizei und Rettungskräften, einen Überblick. In dieser Phase müssen wir auch manchmal knallhart sein und Hilfebedürftigen sagen: „Tut uns leid, es kommt gleich jemand.“ Alles andere gäbe nur ein Chaos.
Was ist der erste Schritt, wenn Sie auf jemanden zugehen?
Ich sage am Anfang immer, dass ich jetzt erst einmal da bin für den Betroffenen. Selbst wenn ich danach mit dem Betroffenen eine Stunde schweige. Am Ende höre ich meistens, dass es wichtig war, dass überhaupt jemand bei ihnen war. Ich bin für die ersten Stunden nach dem Unglück ein Ansprechpartner. Ich höre zu, gebe Struktur und warte, bis die Menschen wieder anfangen, selbstständig zu denken.
Wie lange kann das dauern?
Das ist sehr individuell. Manche sprudeln direkt aus sich heraus, andere wollen drei Stunden spazieren gehen und wieder andere fragen mich, nach langem Schweigen, wie nochmal mein Name war und ob ich nicht etwas zu trinken will. Daran merke ich, wie die Betroffenen langsam wieder aktiver werden.
Ist damit Ihr Einsatz vorbei?
Ich gehe erst dann, wenn die akute, schwierige Lage beendet ist. Bei größeren Katastrophen kann das auch einmal zwei, drei Tage dauern, dann braucht es natürlich eine Ablösung. Was ich leisten kann ist, den Menschen zu erklären, was jetzt passiert, bei ihnen selbst, aber auch im Umfeld: Warum zum Beispiel die Polizei da ist, wie der Ablauf mit dem Bestatter funktioniert oder ob noch jemand aus dem engeren Umkreis informiert werden sollte. Was ich nicht mache und auch nicht darf, ist eine längere Betreuung.
Gibt es auch nach sieben Jahren noch Folgen des Unglücks?
Ja, gerade bei einem so großen Zugunglück bin ich sicher, dass manche Menschen bis heute leiden. Auch wenn sie es selbst teilweise vielleicht gar nicht merken. Das kann sich zum Beispiel darin äußern, dass sie plötzlich vermehrt über den Tod sprechen oder sich nicht mehr in einen Zug setzen.
Wie verarbeiten Sie selbst die Erlebnisse?
Ich habe über die vergangenen Jahre eine gewisse professionelle Distanz entwickelt. Wenn wir Hilfe brauchen, gibt es außerdem das Angebot einer Supervision, um die eigenen Erfahrungen zu verarbeiten. Ich habe auch schon bei einem Einsatz geweint und die emotionale Distanz verloren. Das passiert und ist normal. Wenn ich merke, dass ich ein Thema nicht selbst sortiert kriege, kann ich mir Hilfe holen.
Aus Ihrer langjährigen Erfahrung im Landkreis Rosenheim, würden Sie sagen, dass sich die Notfallseelsorge hier verbessert hat?
Definitiv, was damals in Bad Aibling noch ad hoc funktionieren musste, ist heute deutlich besser organisiert. Das Zugunglück war dafür in der Region auch ein Auslöser. Die Kirche hat sich Gedanken gemacht und zum Beispiel meine halbe Stelle als Leiter der Notfallseelsorge eingerichtet. Gemeinsam mit BRK und den Johannitern gibt es mittlerweile vom Katastrophenschutz beauftragte Personen für Großschadenslagen. Auch auf politischer Ebene wurde nachgedacht und gehandelt.
Wo sehen Sie künftig dennoch Potenzial?
Die Regelversorgung bei unerwarteten Todesfällen ist immer noch ausbaufähig. Einige bleiben in ihrer Trauer nach wie vor auf sich gestellt. Als Kirche können wir an die örtlichen Seelsorger verweisen, aber auch an viele andere Einrichtungen zur weiteren Versorgung. Bei allen Organisationen im Rosenheimer Landkreis, die sich im Rahmen des PSNV kümmern, gibt es aber immer Bedarf an Menschen, die sich ehrenamtlich dafür engagieren. Denn nach einer entsprechenden Ausbildung kann jeder als Notfallseelsorger oder in einem Kriseninterventionsteam mitarbeiten und Menschen in Not helfen.