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Ausbeutung in der Provinz

von Redaktion

Tausende Zwangsarbeiter schufteten in der NS-Zeit in Oberbayern

Kürzlich ist die 86 Jahre alte Russin Anna Lipstowa an die Stätte einstiger Misshandlungen zurückgekehrt. Die betagte Dame besuchte die Überreste des ehemaligen Zwangsarbeitslagers Ehrenbürgstraße in München-Neuaubing. 1944 wurde die damals Zwölfjährige mit ihrer Mutter in das seinerzeit von der Reichsbahn betriebene Lager verschleppt. „Gib mir bitte ein klein Stück Brot oder ein Kartoffel“ – diesen Satz konnte sie noch nach 72 Jahren auf Deutsch sagen. Das zeigt, um was es den damaligen Zwangsarbeitern vor allem ging: ums nackte Überleben. Hunger war ein ständiger Begleiter.

Das Millionenheer der Zwangs- und Fremdarbeiter in der NS-Zeit ist nicht zu verwechseln mit dem der KZ-Häftlinge, bei deren Behandlung prinzipiell nicht Arbeit, sondern Vernichtung im Vordergrund stand. Im Unterschied zu den KZ sind die Fremdarbeiterlager weit weniger gut erforscht – und meist gar nicht erhalten geblieben. Das Neuaubinger Lager ist eine große Ausnahme. Allein in München gab es aber 400 Lager, in Bayern insgesamt wohl tausende.

Der Fürstenfeldbrucker Kulturreferent Klaus Wollenberg hat am Beispiel des „Fremdarbeitereinsatzes“ im Landkreis Fürstenfeldbruck gezeigt, welchen Härten die nach tausenden zählenden Arbeiter zwischen 1939 und 1945 auch auf dem Land ausgesetzt waren. Im Münchner Staatsarchiv ist die gesamte Ausländerkartei des Landkreises erhalten geblieben. Das ist eine Besonderheit, für den Landkreis Dachau zum Beispiel liegt so ein Bestand nicht vor. Eine Auswertung ergab, dass zwischen 1939 und 1945 insgesamt 6240 Personen als Fremd- und Zwangsarbeiter tätig waren – in einem Landkreis mit damals 41 000 Einwohnern. „In allen 55 Gemeinden des damaligen Landkreisgebietes lassen sich ausländische Arbeitskräfte belegen“, schreibt Wollenberg – selbst im kleinsten Dorf. Viele, vor allem Frauen und ältere Leute, kamen damals erstmals mit Ausländern in Kontakt.

Aufgeschlüsselt nach Nationen zeigt sich, dass die sogenannten Ost-Arbeiter die größte Gruppe waren. Unter den 6240 Personen waren 1487 Polen und 1222 Russen. Die drittgrößte Nationalität waren die Franzosen (1138). Zum Teil handelte es sich um Kriegsgefangene, aber in der alltäglichen Behandlung machte das für den Gefangenen oft kaum einen Unterschied. Es gab eine große Bandbreite des Verhaltens. Es gab Landwirtschaften, in denen der Fremdarbeiter selbstverständlich mit am Tisch aß, so als gehörte er zur Familie. Es gab aber auch schroffe Ablehnung und Misshandlung. Der Kreisbauernführer in Fürstenfeldbruck, ein Mann namens Hans Deininger, gehörte wohl zur letzten Kategorie. Er beschwerte sich in seinem Monatsbericht über die Arbeiter wie folgt:

„Das ganze Ausländergesindel, gleichgültig ob Gefangene oder Zivilarbeiter, wird frech und überheblich, anmaßend und faul, so daß der Einsatz von entsprechenden Rollkommandos im Interesse der Einsatzfähigkeit der Heimatfront liegen würde.“

Solche Rollkommandos gab es tatsächlich. Wollenberg hat die Vergehen und Strafen der Arbeiter für den gesamten Landkreis gezählt. Ob nun Flucht (188 Fälle), Nichttragen des obligatorischen diskriminierenden Kennzeichens „Ost“ bzw. „P“ (für Pole) am Revers (55 Fälle) oder „freches“ Benehmen gegenüber dem deutschen Arbeitgeber – strafbar war vieles. Gegen Kriegsende verschärfte sich die Situation. Wollenberg hat den Fall des polnischen Fremdarbeiters Franz Glisscyinski recherchiert, der 1944 wegen verschiedener kleiner Diebstähle ins Visier der NS-Behörden geriet. Vor allem der damalige NSDAP-Kreisleiter Franz Emmer „wollte Härte zeigen“, sagt der Historiker. Der 24-Jährige wurde nahe eines Wäldchens, aber für jedermann einsehbar, mit einem Strick erhängt. Das war ein Einzelfall, aber diese „gnadenlose Unmenschlichkeit“, die sich da in den Akten ausbreitete, hat Wollenberg fassungslos gemacht.

Über das Schicksal der Zwangsarbeiter nach 1945 ist zumeist nicht viel bekannt. Die meisten gingen zurück in ihre Heimat, viele redeten später nicht mehr über ihre oft demütigenden Erlebnisse. Es gibt freilich Ausnahmen. Von Wollenbergs Recherchen erfuhr vor Jahren durch Zufall auch eine Lehrerin in Mannheim. Ihre Schule hatte eine Patenschaft mit der von Tambow in Russland. Dort wiederum lebte eine Frau, die als Kind in der Küche einer Ziegelei im Landkreis Fürstenfeldbruck gearbeitet hatte. Die Stadt Fürstenfeldbruck und die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ schickten Geld. Die Frau, erinnert sich Wollenberg, „bedankte sich mit einer Zwei-Liter-Flasche Wodka, einem Bildband und einem herzzerreißenden Schreiben“. dirk walter

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