„Das Flugzeug streifte die Tram mit einem Flügel“

von Redaktion

Manfred Hoch, 75, ist einer der letzten Überlebenden des berüchtigten Münchner Flugzeugabsturzes von 1960, mitten in der Stadt, nahe der Theresienwiese. 52 Menschen starben damals, 20 im Flugzeug vom Typ Convair und 32 an der Absturzstelle. Am Sonntag jährt sich das Inferno zum 57. Mal. Für uns erinnert sich Hoch noch einmal. Ein Gespräch über Schicksal und Hochs Glück im Unglück.

-Herr Hoch, ist der 17. Dezember stets ein besonderer Tag für Sie?

Selbstverständlich. So ein Flammenmeer zu überleben, ist ja nicht unbedingt etwas Alltägliches. Es war ein einschneidendes Erlebnis, das meinen weiteren Lebenslauf geprägt hat, eine Art zweiter Geburtstag, mit damals 18 Jahren und drei Monaten.

-Und im Alltag? Erinnern Sie sich manchmal an diesen Unfall vor 57 Jahren?

Nein, gar nicht. Ich habe das recht gut verarbeitet. Außerdem: Das Schicksal meinte es ja gut mit mir.

-Das müssen Sie mir erklären.

Zwei Beispiele. Ich habe meine Frau Bärbel erst durch den Unfall kennengelernt. Bis heute sind wir ein glückliches Paar. Wir haben zwei Töchter und vier Enkelkinder. 2015 feierten wir Goldene Hochzeit. Zudem war ich nicht so ganz glücklich mit meiner Optikerlehre damals bei Pini. Und nach dem Unfall habe ich den Beruf gewechselt, weil ich wegen der Brandwunden an meinen Händen ohnehin nicht mehr als Optiker hätte arbeiten können. Also wurde ich selbständiger Repro-Fotograf und übernahm 1982 das Geschäft meines Onkels. Ich fand quasi auch mein berufliches Glück nach dem Unfall.

-Erinnern Sie sich nach so langer Zeit noch an alle Details des Unfalls oder verschwimmen die Dinge irgendwann mit den Jahren?

Ich erinnere mich sekundengenau. Alles ist noch präsent, als ob es gestern passiert wäre.

-Können Sie uns beschreiben, wie Sie den Unfall erlebt haben?

Natürlich. Für meine Kollegen hatte ich an dem Tag Leberkäse aus dem Mathäser eingekauft, als Brotzeit. Danach ging ich aus der Pini-Filiale, weil ich um 14 Uhr Feierabend hatte. Da sah ich schon die Trambahn, die aus Richtung Sendlinger Tor anrollte. Sie fuhr an mir vorbei. Und ich wusste, wenn ich nicht aufspringe, muss ich bis zur Haltestelle am Hauptbahnhof laufen. Also spurtete ich los und sprang auf. Manchmal ärgere ich mich über die Entscheidung.

-Warum wollten Sie nicht auf die nächste Tram warten?

Ich wusste, dass genau mit dieser Tram eine Nachbarin fährt, die Weber Anneliese. Wir saßen oft nebeneinander und fuhren gemeinsam nach Hause, weil wir uns gut verstanden. Also suchte ich sie kurz, warf einen Blick nach vorne, blieb aber im hinteren Teil des Waggons stehen, weil ich sie nicht sah.

-Zum Glück, oder?

Richtig. Wäre ich weitergegangen in die Mitte des Waggons, hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt. Und meine Nachbarin war im vorderen Waggon. Sie überlebte.

-Können Sie sich an die exakte Uhrzeit erinnern?

Der Unfall geschah um 14.09 Uhr. Daran erinnert mich auch meine damalige angeschmorte Armbanduhr, die seit dem Unfall auf dieser Uhrzeit stehen geblieben ist. Die Zeiger brannten sich fest, das Uhrenglas schmolz weg.

-Können Sie sich an den Einschlag erinnern?

Das Flugzeug schlug ja nicht im Waggon ein, es streifte die Tram mit einem Flügel und stürzte ein Stück weiter hinten ab. Weil es aber seltsamerweise vollgetankt gewesen ist, ging sofort alles in Flammen auf. Es rumpelte heftig. Ich drehte mich um und sah nur noch Feuer. Zum Glück waren die Schiebetüren des Waggons offen und ich dachte mir: Hoppla, jetzt musst du raus! Ich rannte ins Freie und brannte am ganzen Körper. Von meiner Hose blieben nur noch Fetzen übrig. Ich hatte keine mehr an, wie ich später feststellte. Der Gürtel war noch da. Das Feuer in meinen Haaren zischte.

-Wie haben Sie das Feuer an Ihrem Körper gelöscht?

In meiner Panik rannte ich erst brennend auf die nahe gelegene Tankstelle zu. Ich dachte, die können mir helfen. Aber der Tankwart wurde natürlich ganz nervös und schrie: Nein, weg, weg! Also lief ich zum nächsten Schneehaufen und wälzte mich darin.

-Welche Gedanken gingen Ihnen da durch den Kopf?

(überlegt kurz) Es ist vorbei, das überlebe ich nicht. Ich spürte keinen Lebenswillen mehr.

-Aber Sie gaben nicht auf?

Richtig. Denn der nächste Gedanke war: Das kann ich meiner Mutter nicht antun. Ich sagte mir, jetzt lösch dich mal. Also wälzte ich mich weiter im Schnee und klopfte hauptsächlich mit meiner linken Hand das Feuer an meinem Körper aus. Sie wurde viel stärker in Mitleidenschaft gezogen als meine rechte Hand. Meine Haare löschte ich in einem Gebüsch voller Schnee. Später im Krankenhaus merkte ich, dass meine Haut von meinen Händen hing, wie Handschuhe, die ich ausgezogen hatte.

-Wer brachte Sie ins Krankenhaus?

Das weiß ich bis heute nicht. Ich kannte den Mann nicht und konnte ihn auch nicht ausfindig machen.

-Erinnern Sie sich an das Krankenhaus?

Nußbaumstraße. Dort hab ich in einen Spiegel geschaut und dachte erst: Sieht gar nicht so wild aus. Ich musste mich auf die Bahre legen, gab noch geschwind meine Personalien an und bekam dann schon die erste Morphiumspritze. Danach war ich natürlich erst einmal weg. Als ich aufwachte, hatte ich am ganzen Körper Verbände. Erst dann erfuhr ich, was eigentlich passiert war: Meine Mutter saß an meinem Bett und erzählte mir, dass ich einen Flugzeugabsturz überlebt hatte. Ich wusste bis dahin nicht, was genau passiert war, warum alles gebrannt hatte.

-An welche Aussagen der Ärzte erinnern Sie sich?

Dass ich Glück hatte, nicht mehr in der Pubertät zu sein. Sie meinten, ein Körper, der sich noch in der Pubertät befindet, hätte es nicht überlebt, wenn 40 Prozent der Körperhaut mit starken Brandwunden übersät sind. Trotz dessen hätte ich ja fast nicht überlebt. Vier Wochen war unklar, ob ich den Unfall überstehe.

-Wie haben Sie die Schmerzen nach dem Unfall ertragen?

Morphium. Wir Unfallopfer simulierten sogar manchmal starke Schmerzen, um eine neue Morphium-Dosis zu bekommen, um letztlich auch die Unfallfolgen psychisch zu ertragen. Einige von uns wurden ja entstellt. Morphium ist wirklich ein Teufelszeug, unterbricht sofort jeden Schmerz und macht sehr schnell abhängig. Aber ohne ging es nicht. Wir haben alle Hauttransplantationen bekommen. Und das funktionierte nicht immer sofort. Manchmal verklebten die Verbände mit allen möglichen Körperteilen. Ich werde niemals die Schmerzen vergessen, wenn mir diese Verbände abgenommen wurden, vor allem an den Händen.

-Haben Sie im Krankenhaus auch andere Opfer des Unglücks kennengelernt?

Klar. Einer von ihnen war ein Student und hatte ähnliche Brandwunden wie ich: der Kühtreiber Wolfgang aus Passau. Meine Mutter betreute ihn ein wenig, weil seine Verwandten ja alle in Passau lebten. Eine Zeit lang hielten wir Kontakt. Aber später verloren wir uns aus den Augen.

-Wie ging es weiter?

Als ich aus dem Krankenhaus herauskam, trank ich viel. Ich glaube nicht, dass ich Alkoholiker war, aber ein Suchtverhalten entwickelte, das ich selbst auf die regelmäßige starke Morphiumdosis im Krankenhaus zurückführe. Und außerdem: Psychologische Betreuung gab es ja nicht. An so etwas dachte damals niemand. Jedenfalls trinke ich schon seit Langem keinen Tropfen mehr. Ich bin da einfach gefährdet, süchtig zu werden. Das sehe ich realistisch.

-Wie wurden Sie behandelt?

Ich hatte 36 Operationen in sieben Jahren. Hautverpflanzungen am ganzen Körper, Finger, Hände, Arme – und zum Schluss eine ästhetische Gesichtsoperation in Lausanne. Der Arzt dort war eine Koryphäe auf dem Gebiet. Nach dieser OP fand ich wieder besser ins Leben.

-Wie haben Sie eigentlich Ihre Frau genau kennengelernt?

Vier Jahre nach dem Unfall war ich bei einer sogenannten Gesichtskorrektur in der Wohlfahrt-Klinik Gräfelfing, wo auch mein Bruder als Assistenzarzt arbeitete – und auch meine Frau. Sie arbeitete als Krankenschwester und pflegte mich. Ich hab sie gesehen und hatte einen guten Eindruck von ihr. Wir gingen ein paar Mal aus. 1965 heirateten wir. Ihr habe ich auch zu verdanken, dass ich nicht alkoholsüchtig wurde.

-Wurden Sie jemals entschädigt für Ihre Verletzungen?

Ich habe sieben Jahre lang prozessiert gegen das Amt für Verteidigungslasten. Die waren vorleistungspflichtig gegenüber dem amerikanischen Militär. Und das Propellerflugzeug, das mit zwölf Studenten aus Maryland abgestürzt war, gehörte ja dem US-amerikanischen Militär. Am Ende bekam ich 25 000 Deutsche Mark Entschädigung. Das Geld habe ich in mein Häuschen hier in Ottobrunn investiert, als Anzahlung.

-Haben Sie sich jemals mit den Ursachen des Absturzes auseinandergesetzt?

Ich habe die Untersuchungen zum Teil verfolgt. Dabei kam heraus, dass der Pilot eigentlich gar nicht hätte starten dürfen. Nebel, aussetzende Motoren vor dem Start, viel zu viel Kerosin getankt… Da sprachen einige Faktoren gegen einen Start. Aber der Pilot wollte das durchziehen. Ich glaube, der hat darin eine sportliche Herausforderung gesehen, trotz aller Widrigkeiten nach London zu fliegen. Es stellte sich im Nachhinein auch heraus, dass das falsche Kerosin getankt wurde und die Treibstoffzufuhr nicht einwandfrei arbeitete.

-Halten Sie die Start-Entscheidung des Piloten für fahrlässig?

Ja, das kann man schon so sagen, auch wenn Pech dabei war. Das wäre ja trotz allem fast gut gegangen. Der Pilot stellte fest, dass im Flug ein Propeller ausfiel, wollte über der Theresienwiese umkehren und nach Riem zurückfliegen. Und wenn er wegen des Nebels die Turmspitze der St.-Paul-Kirche nicht übersehen und gestreift hätte, zusätzlich der Flügel nicht abgebrochen wäre, hätte er das wahrscheinlich auch geschafft.

-Gibt es trotz der Tragik noch Anekdoten, die aus der Tragödie entstanden sind?

Ja, eine Geschichte erzähle ich immer sehr gerne: Der damals neue Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel ließ allen überlebenden Unfallopfern eine teure Flasche Rotwein zukommen. Die habe ich im Keller gelagert und wollte sie zu einem besonderen Anlass trinken. Und als meine Mutter mal allein bei mir war, ging sie in den Keller und öffnete ausgerechnet diese teure Flasche Wein. Da hab ich mich natürlich beschwert. Und jetzt kommt’s: Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, schrieb sie noch mal Bürgermeister Vogel, erklärte das Malheur und fragte, ob es möglich wäre, noch eine dieser teuren Flaschen Wein zu bekommen. Und Vogel schickte uns tatsächlich eine neue. Für die Betreuung nach dem Unfall bin ich dem damaligen Oberbürgermeister Vogel ohnehin bis heute sehr dankbar. Er hat uns nicht allein gelassen.

Interview: Hüseyin Ince

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