Als Jugendliche, sagt Birgit Lutz, habe sie mal bei einer Kampagne gegen Robbenjagd unterschrieben, nebenbei beim Einkaufen in der Fußgängerzone. Sie dachte sich: Robben jagen, das ist etwas Schlechtes. Etwa 30 Jahre später steht die Schlierseerin (Kreis Miesbach) auf einem Boot vor der grönländischen Küste und schaut zu, wie ein Inuit-Jäger einer Robbe mit einem Stock auf den Kopf schlägt – immer wieder, bis sie sich nicht mehr rührt. Es gibt ein Video davon, die erste Robbenjagd, an der sie teilgenommen hat. „Das kann ich mir nicht anschauen“, sagt die 43-Jährige. Trotzdem sei es eine wichtige Erfahrung gewesen – eine von vielen, die sie während ihrer Grönlandreise sammelte und die ihr „ein zweites Leben geschenkt hat“.
Die Geschichte, die Lutz erzählt, ist ein bisschen wie der Film „Der mit dem Wolf tanzt“ über einen amerikanischen Offizier, der von einem Stamm Ureinwohner aufgenommen wird und schließlich auf deren Seite gegen „die Weißen“ kämpft. Nur dass es hier nicht um die Ureinwohner Amerikas geht, sondern um die Inuit. Und nicht um die weiten Steppen der USA, sondern die Eislandschaft Ostgrönlands. Und dass zwar auch viele Menschen sterben, aber nicht durch einen Krieg. Lutz hat auch nicht die Seiten gewechselt. Sie hat eine Position, wie sie heute wenige Leute einnehmen: nicht dafür oder dagegen, sondern dazwischen.
Lutz ist in den vergangenen Jahren viermal nach Grönland gereist. Im Mai 2013 durchquerte sie mit zwei Freunden die Insel von der West- zur Ostküste. Am Ende dieser Reise landeten sie in dem kleinen Dorf Isortoq, das Lutz sofort faszinierte. Nicht, weil es so schön ist – ganz im Gegenteil. Isortoq war das Gegenteil von den bunten Häusern, die man aus den Werbeprospekten für Grönland kennt: nackt, brutal, verfallen. Sie hatte nur einen kurzen Aufenthalt in dem Ort, dann flog sie zurück in ihre Welt, nach München, wo sie als Journalistin arbeitet, und schrieb ein Buch über ihre Grönlanddurchquerung.
Doch das Bild von Isortoq ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, sagt sie. „Später erkannte ich, dass ich eigentlich etwas richtig Blödes gemacht habe. Ich bin über Grönland drübermarschiert, wie so viele, und erzähle dann nur von meiner Heldentat, die gar keine Heldentat war.“ Und mit keinem Wort erwähnt sie die Menschen, die dort leben, dort leben müssen und die die eigentlichen Helden sind. „Ich habe mich gefühlt, als hätte ich Grönland benutzt. Als meine Spielfläche.“
Im September 2015 fliegt Lutz wieder nach Ostgrönland, diesmal will sie länger bleiben, einen ganzen Monat. Es werden schließlich drei daraus, verteilt über zwei Jahre. Lutz bereist die Ostküste des Landes, spricht mit den Einheimischen, von denen manche als Kinder noch in Erdhäusern gelebt haben, „wie in der Steinzeit“, sagt Lutz. Mit Politikern, die versuchen, das Land in die Moderne zu führen. Mit Jägern, die damit nichts anfangen können. Die stark genug sind, einen Eisbären zu erlegen, aber nicht stark genug, um in einer Gesellschaft wie der unsrigen zu überleben. Lehrer, die voller Hoffnung sind und doch nicht wissen, wie sie ihren Schülern Hoffnung machen sollen. An einem Ort, an dem es keine Arbeit gibt und das Leben, wie sie es von ihren Eltern kannten, keine Zukunft hat.
Um die Misere Ostgrönlands zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückschauen. Während der Westen vor etwa 300 Jahren missioniert wurde, kamen erst 1884 die ersten Europäer im schwer zugänglichen Osten an. Seit 1921 gehört Grönland zu Dänemark, erst seit 1979 darf es sich selbst verwalten und hat ein eigenes Parlament. Der Sprung in die Moderne, der von Dänemark verordnet wurde, kam im Osten noch viel später an als im Westen. Die Menschen dort hatten weniger Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass sie nun in einer Welt leben, in der man mit Geld bezahlen muss. Und um Geld zu verdienen, muss man arbeiten oder ein Geschäft aufmachen. „Erklären Sie mal einem Ostgrönländer, der noch nicht mal Dänisch kann, geschweige denn Englisch, dass er ein Geschäft aufmachen soll und eine Steuererklärung machen muss“, sagt Lutz.
Sie hat es bei ihrer Ankunft im September in dem Ort Tasiilaq gesehen: Es war ein Tag, an dem gerade die Sozialhilfe ausgezahlt wurde und viele der Einwohner betrunken durchs Dorf torkelten. Und an den Friedhöfen kann man es auch sehen: Grönland hat eine der höchsten Suizid-raten der Welt. Mag das moderne Leben zu den Grönländern kommen, sie selbst sehen für sich keine Zukunft in diesem Leben.
Dass das heute so ist, daran seien auch wir Europäer schuld, sagt Lutz. In den 1970er- und 80er-Jahren starteten Tierschutzorganisationen wie Greenpeace erstmals ihre Kampagnen gegen die Robbenjagd. Die Bilder von Robbenbabys auf Eisschollen, die von Jägern totgeknüppelt werden, gingen um die Welt. Rotes Blut auf weißem flauschigem Fell – seit diesen Tagen ist Robbenfell „bäh“, wie Lutz sagt und damit die Lebensgrundlage der Inuit zerstört.
Wobei die Grönländer nie Robbenbabys gejagt haben, sagt Lutz. Das gab es vor allem in Kanada. Doch die Menschen unterschieden nicht zwischen kommerzieller Felljagd und der traditionellen Jagd der Inuit. „Das ist auch heute noch so. Diese Kampagnen laufen immer noch, obwohl die Jagd nach Robbenbabys längst verboten ist.“ Kanada verhängte 1987 ein entsprechendes Gesetz.
Lutz sagt, sie wolle nicht missionieren. Nicht sagen: Das ist falsch und so macht man es richtig. „Jeder soll sich selbst eine Meinung bilden.“ Für manche ist aber selbst das zu viel. Auf Facebook habe sie schon Anfeindungen von militanten Tierschützern bekommen, sagt Lutz. Das war auch ein Grund, warum sie das Buch geschrieben hat: Um unserer Debattenkultur etwas entgegenzusetzen, „dieser Schwarz-Weiß-Malerei. Man ist immer nur für etwas oder dagegen, aber immer mit Vollgas“. Aber eine Lösung finden, die allen gerecht wird, sei viel schwieriger, sagt Lutz. Eine Lösung für die Robben, die Wale und die Inuit – damit alle leben können.
Wer einen Wohlfühlreisebericht lesen will, sollte sich das Buch von Birgit Lutz nicht kaufen. Wer den Osten Grönlands wirklich kennenlernen will, schon. Es gab auch viel Schönes auf ihrer Reise, sagt Lutz, allen voran die Menschen und ihre Art zu leben. Die Grönländer urteilen nicht, so wie wir es tun, sagt sie. „Du kommst da hin und kannst sein, wie du willst. Es gibt nicht nur ein Richtig und ein Falsch.“ Die Menschen dort haben es in ihrem Leben in der Isolation gelernt, miteinander auszukommen.
Und natürlich habe Grönland wunderschöne Natur. Das Meer, das Eis, das Nordlicht, die Stille. Das Geräusch, das sie mit Grönland verbinde, sei das Krachen, wenn Eisberge an der Küste auseinanderbrechen. „Das knallt so laut, das spürst du richtig in der Lunge.“ Je weiter man ins Land fahre, desto stiller werde es. Grönland sei ein Ort, an dem man das Gefühl haben kann, es gebe keine Menschen auf der Welt, sagt Lutz. Das sei auch eine große Herausforderung: „Diese Stille die muss man dann selber füllen. Wenn man in Grönland ist, muss man gut mit sich selber auskommen.“