Poing – Diesen Augenblick wird Gerda Tiefenbacher nie vergessen: Sie sitzt in der Intensivstation am Bett ihres Sohnes. Seit drei Monaten liegt er im Koma. Außer ihr haben alle die Hoffnung aufgegeben. Doch plötzlich öffnet Stefan die Augen, dreht den Kopf langsam zur Seite und blickt zu seiner Mutter. „Stefan, du wirst wieder Saxofon spielen“, verspricht sie ihm. „Das war in dem Moment, in dem er merkte, dass sein linker Arm weg ist“, erinnert sie sich.
Seit seinem zwölften Lebensjahr ist das Musizieren Stefan Tiefenbachers große Leidenschaft. Jazz, Blues, freie Improvisation – er kann alles. Seine Musiklehrer loben sein gutes Gehör und sein musikalisches Einfühlungsvermögen. Er spielt in einer Band, hat großen Spaß an den Auftritten. Doch dann kommt jener verhängnisvolle Tag im Jahr 1999. Der damals 23-Jährige aus Poing (Kreis Ebersberg) ist mit seinem Motorrad unterwegs, er hat seinen Realschulabschluss und eine Lehre als Bauzeichner sowie ein nachgeholtes Abitur in der Tasche. Gerade hat er erfahren, dass er einen Studienplatz in seinem Wunschfach Stahlbau bekommt. Stefan Tiefenbacher ist glücklich. Dann kommt das Auto. Er gerät unverschuldet in einen Unfall, er verliert den linken Arm, einen Teil seines linken Beines und erleidet schwere Schädel-Hirn-Verletzungen. Drei Monate liegt er im Koma, danach folgen zweieinhalb Jahre Krankenhaus und weitere zweieinhalb Jahre Reha.
Langsam kämpft er sich zurück, mithilfe seiner Mutter, seines Musiklehrers Walter Weh – und seines Saxofons. Zwei Jahre nach dem Unfall bringt Gerda Tiefenbacher ihrem Sohn das Instrument, auf dem er schon so viele Jahre gespielt hatte, ans Krankenbett. Martin Foag, Instrumentenbauer aus dem kleinen Ort Hafenhofen bei Burgau in Schwaben, hat das Tenorsaxofon umgebaut, sämtliche Tasten sind jetzt auf der rechten Seite, die Öffnungen links sind zugelötet. So kann Stefan Tiefenbacher sein Instrument auch mit einer Hand, der rechten, spielen. Das Saxofon steht in einer speziell angefertigten Halterung, um die Schultern schnallen kann es der Musiker nicht mehr.
Mehr als zwei Jahre hat der Poinger gebraucht, bis er sein Instrument wieder beherrschte. Durch das Schädel-Hirn-Trauma hatte er alles, was vor dem Unfall war, vergessen – nicht nur, was ein Apfel, was eine Brücke, was ein Saxofon ist – sondern auch, was Noten sind. „Aber bei der Musiktherapie während meines Reha-Aufenthalts habe ich gemerkt, dass es vorangeht, wenn auch langsam. Und das hat mich motiviert“, erzählt der heute 42-Jährige.
Nach Noten spielen kann er nicht mehr, doch eines hat er durch den Unfall zum Glück nicht verloren: sein Gespür für Rhythmus und Töne. Zusammen mit seinem Musiklehrer, dem Jazz-Pianisten Walter Weh, hat er bereits zwei CDs veröffentlicht, fast alle Songs hat Tiefenbacher selbst komponiert, aus dem Bauch heraus. Jetzt ist die dritte CD erschienen. Ihr Titel: „Remember“ – erinnern. Viel gefühlvoller, manchmal beschwingter Jazz. Am heutigen Samstag stellt er das Album bei einem Konzert vor (20 Uhr, im Ars Musica, Plinganserstraße 6 in München).
Musik ist sein Lebensglück, seine Motivation. Genau wie die Mathematik. Vor zehn Jahren hat Stefan Tiefenbacher begonnen, seine alte Leidenschaft aus der Schulzeit aufleben zu lassen, um sein Gehirn wieder zu trainieren. Er übt regelmäßig, einmal die Woche sogar mit einem Lehrer. Auch dabei musste er mit 32 Jahren noch einmal ganz vorne beginnen – mit dem Einmaleins. Mittlerweile, sagt seine Mutter, könnte er vermutlich das Abitur bestehen. „Stefan ist ein Kämpfer.“