Windach – Wer den Weg zu Gott sucht, muss dreimal rechts und einmal scharf links abbiegen. Die Autobahn 96, Ausfahrt Windach, eine 3800-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Landsberg am Lech. Auf den Schildern mit der Aufschrift „Autobahnkapelle“ müsste eigentlich „Autobahnkirche“ stehen. Das wäre nicht nur richtig; das hätte das Gotteshaus, das über 500 Menschen Platz bietet, auch verdient. Obwohl es von außen einen tristen Eindruck macht: Dunkles Moos überzieht das braun-graue Zeltdach, das ausgelagerte Glockenturm-Stahlgerüst rostet hier und da.
Nur eine Autominute liegt zwischen dem dichten, hektischen Freitagnachmittagsverkehr und der Raststätte für die Seele – der katholischen Pfarr- und Autobahnkirche „Maria am Wege“ in Windach. Hat man sich eben noch auf der Autobahn in Kolonnen durch Baustellen gezwängt, sitzt man in der Autobahnkirche bequem – und allein. Eine emotionale Vollbremsung.
Da zuckt man schon beim leisen Knarzen der Glastür zusammen, die Pfarrer Markus Willig aufstößt. 42 Jahre alt, fester Händedruck, laute, klare Stimme. Viele Menschen trifft er hier nicht, aber manchmal haben es die Begegnungen in sich: „An einem Sonntagabend standen mal drei Pilger aus Polen vor der Tür. Sie wollten, dass ich eine Messe für sie halte“, erzählt er. Die spontane und sehr bestimmte Aufforderung der Gläubigen, die angeblich auf der Durchreise nach Nordafrika waren, ließ ihn stutzen. Eine halbstündige Messe mit dem Vaterunser auf Latein las der Geistliche aber selbstverständlich – auch wenn er die Kirche eigentlich gerade zusperren wollte.
Der Innenraum unter dem Zeltdach ist rund, ein großer Stuhlkreis formiert sich um den Altar. In der Mitte zu stehen, so im Fokus zu sein, „daran musste ich mich erst gewöhnen“, sagt Willig. Vor zwei Jahren wurde der gebürtige Münchner vom Urdonautal bei Eichstätt nach Windach versetzt. Hier hat es der Pfarrer mit einer kleinen Dorfgemeinde zu tun – aber eben auch mit dem Publikum von der Autobahn, die seit 1992 vorbeiführt. „Das sind eher keine klassischen Gottesdienstgänger, sondern oft Leute, die nicht wissen, wie sie mit Gott in Kontakt treten sollen.“ Hier kreuzen Menschen auf, die durchatmen, die Gedanken kreisen lassen, die sie auf der einsamen Autofahrt verfolgen, oder einfach nur eine Kerze anzünden wollen. 11 000 Opferkerzen braucht die Pfarrei pro Jahr.
Die Windacher unterscheidet sich ganz wesentlich von anderen Autobahnkirchen, die direkt an Raststätten liegen: „Hier kann man nicht reinstolpern, hier muss man bewusst rausfahren“, sagt Willig. Und wer rausfährt, sucht vor allem eines: Ruhe. „Zu mir ist noch nie jemand gekommen und hat um ein Gespräch gebeten.“
Was die Menschen unterwegs bewegt, steht im sogenannten Anliegenbuch. Es liegt auf einem Stehpult unter einer Jesus-Büste mit Dornenkrone. „Lieber Gott, wir danken Dir, dass bei unserem Autounfall nicht mehr passiert ist und auch den anderen nichts fehlt – und ich nicht viel Strafe bekomme“, schreiben Axel und Marianne. Ein Mann formuliert eine Anklage: Erst bedankt er sich, dass zwei Ausländer sein Auto zur Zapfsäule geschoben haben, nachdem ihm das Benzin ausgegangen war. Dann schreibt er: „Die Deutschen machten keine Anstalten, mir zu helfen. Armes Deutschland!“
Neben spanischen, polnischen, englischen und niederländischen Grußworten fallen die Einträge kranker Menschen auf. Sie hoffen auf positive Diagnosen für sich oder Familienmitglieder. „Lass mich keinen Brustkrebs haben“, kritzelt eine Frau ins Buch. Die Häufung solcher Fälle ist dem Pfarrer aufgefallen: „Hier kommen einige vorbei, die auf dem Weg in eine Münchner Klinik sind.“
Ab und zu wird Gott als Heilsbringer in Notsituationen also noch angerufen, aber insgesamt vermisst Willig heute die religiöse Praxis. Nach seinem Eindruck entfernen sich die Menschen eher von Gott. Das Autobahnkirchen-Netz jedoch wächst. Waren es 2013 noch 38, gibt es heute deutschlandweit schon 44 Gotteshäuser. In Bayern sind es sieben. Die Akademie der „Versicherer im Raum der Kirchen“ betreut das Netz. Sie zählt in den Kirchen insgesamt über eine Million Besucher im Jahr und sieht in den Einrichtungen auch einen Beitrag zur Verkehrssicherheit. Auf der Internetseite heißt es: „Wer in Autobahnkirchen Rast gemacht hat, der fährt danach gelassener, rücksichtsvoller und sicherer.“
Manche Pfarreien organisieren unter anderem Gottesdienste für Fernfahrer. In Windach gibt es solche Angebote nicht. Reisende feiern ihre Messen aber auch so: Eine Busgruppe aus Baden-Württemberg kommt immer wieder auf dem Weg nach Altötting vorbei. Einmal reisten Gläubige aus Osteuropa mit einem Bischof an und nutzten die Kirche unangemeldet. „Das war nicht die feine englische Art“, erinnert sich Willig. „Aber sie hatten alle Utensilien selbst dabei.“
Eine Autofahrer-Kirche ist „Maria am Wege“ bereits seit der Fertigstellung 1971, das Zeltdach steht symbolisch für die Rast der Reisenden. In der Urkunde zur Grundsteinlegung ist von den Autofahrern auf der B 12 die Rede, die zur „besinnlichen Einkehr“ ermuntert werden. Markus Willig sieht in Wegkreuzen und -kapellen die Vorläufer der Gotteshäuser am Straßenrand. „Die Autobahnkirchen sind heute eine Möglichkeit, Ruhepunkte in schnelllebigen Zeiten zu schaffen.“
Unterwegs zu sein, das liege quasi in der DNA von Christen, sagt der Pfarrer. Er meint den Weg zu Gott. Viele fahren jeden Tag auf der A 96 mit 120 Sachen an ihm vorbei. Einige wenige aber biegen für ihn dreimal rechts und einmal scharf links ab.