Blitzreaktion auf der Autobahn

Auge in Auge mit dem Geisterfahrer

von Redaktion

von Christoph Hollender und Markus Christandl

Forstinning – Sekundenbruchteile hatte Thomas Büttner Zeit. Sekundenbruchteile, die über Leben und Tod entschieden haben dürften. Auf der Autobahn 94 bei Forstinning im Landkreis Ebersberg hat der 49-Jährige am Mittwoch einen Geisterfahrer gestoppt. „Ich hätte ihn gerammt“, sagt er.

Es ist ein sonniger Nachmittag. Büttner, der eine Trockenbaufirma in Grafing hat und mit seiner Familie im Kreis Traunstein wohnt, fährt mit seinem weißen Citroën Jumper auf der A94 in Fahrtrichtung Passau. 120 Kilometer pro Stunde, linke Spur. Er ist auf dem Weg zu einer Baustelle, als um 14.05 Uhr vor ihm zwei Autos auf der linken Spur plötzlich panisch nach rechts ziehen. „Ausgeschaut hat das wie früher bei dem Elchtest mit der A-Klasse, so sind die seitlich dringelegen“, erzählt er.

Dann sieht Büttner den Grund für das brutale Ausweichmanöver: einen Geisterfahrer. Etwa 400 Meter vor ihm kommt auf seiner Fahrbahn ein dunkelblauer Opel entgegen. Büttner bleiben Sekundenbruchteile, in denen er beschließt: „Ich werde ihn stoppen.“ Hinter ihm fährt ein Motorrad. Wenn das mit dem Opel zusammenstößt, stirbt der Biker wahrscheinlich, hat sich Büttner, selbst Motorradfahrer, gedacht. Er handelt im Affekt: Warnblinkanlage, Lichthupe – und: „Ich bin auf der Spur geblieben und bin voll in die Eisen gestiegen.“

Ordner, Handy und Werkzeug fliegen durch den Innenraum. Der blaue Opel Meriva wird langsamer. Büttner hofft, dass er ihn vielleicht an die Mittelleitplanke rammen kann. Doch das Manöver endet ohne Kollision: Beide Autos kommen zum Stehen. Nur etwa ein Meter trennt die Kühlerhauben. Vom Erkennen des Geisterfahrers bis zum Stillstand dürften keine drei Sekunden vergangen sein, schätzt Büttner.

„Du handelst. Mehr nicht“, sagt der 49-Jährige. Mit seinen längeren, dunkelblonden Haaren, dem Bart und den Tattoos auf den Armen schaut er auch so aus, als würde er anpacken, wenn es darauf ankommt. Er steigt auf der Autobahn aus, rennt zur Fahrertüre des Opels und reißt sie auf. „Der Mann hat mich sogar noch angehupt“, erzählt Büttner. Der Falschfahrer ist ein 89 Jahre alter Rentner aus dem Landkreis Ebersberg. Er ist überrascht, will einfach umkehren und weiterfahren. Aber Büttner zieht den Autoschlüssel aus der Zündung. „Du fährst nirgends mehr hin“, sagt er dem Mann.

Erst jetzt schaut Büttner hinter sich auf die Autobahn. Fahrzeuge und ein Sattelschlepper stehen quer. Alle mussten eine Vollbremsung machen. Die Folge: Stau, aber keine Unfälle, keine Verletzten. „Ich habe am ganzen Körper gezittert“, sagt Büttner. Er ruft die Polizei an. Dann seine Frau.

Nach zehn Minuten trifft eine Streife ein. Die Beamten nehmen dem 89-jährigen Falschfahrer noch vor Ort den Führerschein ab. Bei der Anschlussstelle Hohenlinden war er verkehrt auf die Autobahn aufgefahren und hatte anderthalb Kilometer auf der linken Spur zurückgelegt. Danach sagt der Rentner: „Zum Glück ist nichts passiert“ und legt Büttner die Hand auf die Schulter. Der fährt schließlich weiter. Dann holt den Familienvater das Erlebte ein, erzählt er: „Erst im Auto wurde mir klar, wie knapp alles war. Da wurde mir ganz anders.“

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