München – Die Beine anwinkeln, den Rücken durchstrecken und das Becken nach oben: Mehr als einen orangefarbenen Gymnastikball und eine türkise Gummimatte brauchen Elisa Puls und Sandra Lohse oft gar nicht, damit ihre Patienten den Hintern hoch kriegen. Zeit wird’s. Bei denen, die bei der 28-jährigen Physiotherapeutin oder der 34-jährigen Osteopathin auf der Matte oder Behandlungsliege landen, ist die Lage akut. Rücken- oder Gelenkschmerzen, Bänderriss oder Bandscheibenvorfall, das sind häufige Symptome, mit denen Ärzte ihre Patienten ins Münchner Gesundheitszentrum am Maximiliansplatz (GZM) schicken.
Und diese Patienten werden immer jünger, ein Trend, der die beiden Therapeutinnen beunruhigt. Eine 13-Jährige mit Bandscheibenvorfall, ein Elfjähriger, der regelmäßig an Muskelfaserrissen laboriert – nur zwei aktuelle Beispiele. Extreme Ausreißer? „Nein. In der Ausbildung haben wir immer über Beispielfälle gesetzteren Alters gesprochen – und plötzlich hatte ich die ganzen Jungen im Wartezimmer sitzen“, sagt Physiotherapeutin Puls. Gut die Hälfte ihrer Patienten sind noch keine 25 Jahre alt, schätzt sie. Das ist neu. „Als ich 2004 angefangen habe, war der Altersschnitt noch 50 plus“, erzählt ihre Kollegin Sandra Lohse. „Die Kinder und Jugendlichen sind seitdem viel, viel mehr geworden.“
Im Fitnessraum der Praxis baumeln Gymnastikringe von der Decke, daneben stehen Ergometer und ein Zugapparat für den Muskelaufbau. Wenn Kinder mit Rückenschwierigkeiten kommen, verordnen die Therapeutinnen Bewegung. „Schonen macht es definitiv schlimmer“, sagt Puls. Oft versumpften Kinder nach dem Ganztagsunterricht auch noch vor dem Computer oder am Smartphone. Bewegung? Fehlanzeige. Die Folge: „Viele Kinder bekommen kein Körpergefühl. Bewegung muss gelernt werden.“
Stattdessen bauten die Kinder Gewicht und Fehlstellungen auf – bis schlimmstenfalls eben die Bandscheibe nachgibt. Wie bei dem 13-jährigen Mädchen, das davor zwei Jahre lang an Schmerzen litt. Oft merken die Eltern gar nicht, dass etwas falsch läuft, hat Lohse beobachtet. „Manchmal ist es dann die Rucksackverkäuferin, die sagt: ,Das Kind ist schief’.“
Das ist der eine Fall, das Zuwenig an Bewegung. Das Zuviel gibt es auch: Ob beim Turnen, Kampfsport oder im Ballett – übertriebene Leistungen sind für heranwachsende Körper Gift, erklären die Therapeutinnen. „Leistungssport ist kein Gesundheitssport“, sagt Puls. Der Elfjährige mit den dauernden Muskelbeschwerden werde von einem ehrgeizigen Vater auf eine Fußballerkarriere getrimmt. Ob das was wird – die Therapeutinnen zweifeln. „Die Strukturen im Körper kommen nicht mehr hinterher“, erklärt Lohse die Folgen solcher Überbelastung. Entzündungen schlichen sich ein, der Körper werde verletzungsanfällig.
Beide jungen Patientengruppen, die Zuviel- und die Zuwenig-Macher, hätten zudem häufig etwas gemeinsam – falsche Ernährung. Zu fettes Essen oder, das andere Extrem, Sportler-Diät bis hin zum Nährstoffmangel. Dringend gefragt: das gesunde Mittelmaß dazwischen.
Gegen die Bewegungskrise der Heranwachsenden haben die beiden Therapeutinnen auch ein Rezept, so simpel, dass es schon abgedroschen klingt: Weg vom Bildschirm, ausreichend schlafen und viel bewegen. Spezielle Übungen oder ausgefallene Sportgeräte brauche es dafür gar nicht. „Es reicht, die Kinder einfach toben zu lassen“, sagt Puls. Und dabei der natürlichen Entwicklung ihren Lauf lassen. Babys so früh wie möglich das Laufen anzutrainieren sei oft schon der erste Fehler, diagnostiziert sie. „Krabbeln ist super für die Hüftgelenke.“
Puls erzählt von ihrer kleinen Nichte, die begeistert Yoga mit Anleitungsvideos am Tablet mache. Da ist der Bildschirm gut eingesetzt, findet die Physiotherapeutin. „Hauptsache, die Kinder lernen Spaß an der Bewegung.“