Mittenwald – Ein November-tag im Jahr 1962: Kurz vor der Bayerischen Grenze verlassen Luis Amplatz, Sepp Forer, Heinrich Oberlechner und Siegfried Steger das Fahrzeug und tauchen ein in den dunklen Wald. Das, was die vier Südtiroler in Mittenwald holen, ist mehr als brisante Ware. Es geht um Sprengstoff, mit dem in Südtirol Strommästen oder Statuen in die Luft gehen sollen. Die vier sind dank internationaler Medien in ganz Europa bereits als die „Pusterer Buibm“ bekannt und Mitglieder des Befreiungsausschusses Südtirols (BAS).
Seit 1956 übt die BAS Anschläge in Südtirol aus. Höhepunkt war die sogenannte Feuernacht von 11. auf 12. Juni 1961. Genau 42 Strommasten wurden in Bozen und Umgebung Ziel der Anschläge der selbsternannten Freiheitskämpfer. Nur wenige Wochen später sprengten Mitglieder der BAS acht weitere Strommasten, „um den Zugverkehr lahm zu legen“, wie Siegfried Steger nun bei einem Auftritt im Mittenwalder Pfarrsaal erzählte. Zum ersten Mal stellte er in Bayern sein Buch „Was geschah im Hintergrund – 55 Jahre im Exil“ vor. Das stieß auf großes Interesse: Mit 140 Zuhörern war der Saal voll, einige Interessenten mussten sogar wieder heim geschickt werden.
150 Mitglieder der Organisation rund um den Gründer Sepp Kerschbaumer wurden nach den Anschlägen von den italienischen Carabinieri verhaftet. Steger sagt, er sei damals gefoltert worden. Die italienische Regierung dementiert dies bis heute. Als sicher gilt aber, dass Anton Gostner während der Haft verstarb. Dies verschärfte die angespannte Lage in den Alpen umso mehr. Steger und seine Pusterer Buibm waren jetzt in ihrem Vorhaben „erst richtig bestärkt“.
In Mittenwald trafen sich vier Südtiroler damals in einem Wirtshaus mit einem „Lieferanten“ des Sprengstoffs. „Ich kann heute leider nicht mehr sagen, wo genau das war“, bedauert der 79-jährige. „Links wenn ma rein fährt in Mittenwald“, so viel weiß er noch. Luis Amplatz, seinerzeit ein begeisterter Bergsteiger, war regelmäßig im oberbayerischen Geigenbauort zu Gast. Bei jedem Besuch wohnte er auch dem Bergsteiger-Stammtisch im Gasthof Gries bei. „Wahrscheinlich war es da.“ Nach einem Bier und einem kurzen Gespräch verschwand der Mittenwalder Lieferant, dessen Name heute nicht mehr bekannt ist, und holte die „heiße Ware“: über 60 Kilo Sprengstoff.
Wenn Siegfried Steger über diese Ereignisse von damals erzählt, ist er zwiegespalten. Einerseits brennt auch nach fast 60 Jahren die Wut über damalige Schikanen durch italienische Behörden in ihm. Schließlich wurde den Südtirolern die deutsche Sprache untersagt, Namen und Ortsbezeichnungen mussten auf Italienisch geschrieben werden. Steger selbst wurde wie viele andere Südtiroler Kinder heimlich in Katakomben und Kellern unterrichtet. Schützentraditionen und Brauchtums-Veranstaltungen wurden verboten. Viele feiern die Pusterer Buibm deswegen bis heute als Helden. In einigen Heimatorten in Südtirol wird sogar debattiert, sie zu Ehrenbürger zu ernennen.
Andererseits gesteht Steger, dass es „oftmals nicht viel gebraucht hätte, und es hätte Tote geben“, so der Asyl-Tiroler vergangenen Freitag-abend in Mittenwald. „Da will ich nix beschönigen.“ Es hätte auch einige unter den BAS-Mitgliedern gegeben, „die einen Partisanenkrieg bevorzugt hätten“.
Doch was mit Flugblatt-Aktionen begann, spitzte sich Mitte der 1960er-Jahre dramatisch zu. Am 16. Juli 1964 wurden 35 BAS-Mitglieder in Mailand schuldig gesprochen, darunter auch Organisations-Leiter Sepp Kerschbaumer. Er starb noch im gleichen Jahr in italienischer Haft. Die danach auftretende neue Generation der BAS war radikaler als ihre Gründer. Vermehrt traten neonazistische und rechtsradikale Kreise in Erscheinung.
Nachdem Carabinieri freigesprochen worden waren, die nach der Feuernacht von 1961 der Folter an Südtirolern und Österreichern beschuldigt wurden, intensivierten sich die Kämpfe. Es gab Tote auf beiden Seiten. Im September 1964 starb der Carabiniere Vittorio Tiralongo – bei einem Anschlag? „Es wurde uns in die Schuhe geschoben“, weist Steger jede Schuld von sich. „Es deutet alles auf ein Eifersuchtsdrama hin.“ Kurz darauf wurde Luis Amplatz von einem italienischen Agenten erschossen.
Siegfried Steger wurde zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt und lebte seit September 1968 in Starnberg – im Exil. 1999 zog er nach Telfs. Auch in Bayern hatte er mächtige Freunde. So veröffentlicht er in seinem Buch ein Schreiben von 1981 des späteren CSU-Fraktionschefs Alois Glück an den Chefredakteur der Zeitung „Dolomiten“, Toni Ebner. Demnach seien „die CSU als auch die bayerische Landesregierung bereit“, bei der „Lösung der Südtirol-Frage moralische und finanzielle Unterstützung zu gewähren“.