München – Es soll starke Tumorschmerzen lindern, aber weniger Übelkeit als Opoide auslösen. Es soll Ängste lösen und bei Multipler Sklerose wirken: Inzwischen gibt es viele Berichte über Patienten, denen Cannabis geholfen haben soll. Sie nutzen Teile der Hanfpflanze nicht als Rauschmittel, sondern als Arznei.
Das ist hierzulande seit etwas mehr als einem Jahr erlaubt: Seit 10. März 2017 dürfen Ärzten Cannabis für medizinische Zwecke per Betäubungsmittelrezept verordnen – allerdings unter strengen Auflagen: Nur wenn keine andere Therapie geholfen hat und der Mediziner einen Effekt erwartet, darf er ein solches Rezept ausstellen – und das geschieht offenbar immer öfter. In Deutschland sei die Zahl der Verordnungen am höchsten in Europa, sagt Dr. Heidemarie Lux, Suchtbeauftragte der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), beim 17. Suchtforum in Bayern in München. In 60 Prozent der Fälle stimmten die gesetzlichen Krankenkassen der Kostenübernahme zu. 44 000 Einheiten Cannabisblüten haben Apotheker 2017 an ihre Kunden abgegeben – Tendenz steigend. Sogar zu Lieferengpässen ist es schon gekommen.
Dabei ist die Wirksamkeit von Cannabis alles andere als belegt. Teile der Hanfpflanze werden zwar schon seit mehreren tausend Jahren als Heilmittel genutzt – und das in vielen Ländern. Doch wissenschaftliche Vergleichsstudien an vielen Patienten, die die Wirkung klar belegen würden, gibt es nicht. Was Ärzte heute über den medizinischen Einsatz von Cannabis wissen, stammt meist von „Anwendungsbeobachtungen“, die aber selten Gruppen von mehr als 20 Patienten betreffen: Mediziner müssen nämlich dokumentieren, welche Erfahrungen sie mit dem Einsatz der Mittel machen.
Sonst seien die Vorgaben aber recht vage, kritisiert Heidemarie Lux. Bei welchen Erkrankungen darf Cannabis eingesetzt werden? Ist nicht festgelegt, weil Studien fehlen. Aus dem gleichen Grund müssen Ärzte letztlich durch Ausprobieren herausfinden, ob und in welcher Dosis Cannabis dem einzelnen Patienten hilft – und in welcher Form: Pulverisierte Blüten schlucken oder das Mittel inhalieren? Wirkung und Risiken sind jedes Mal anders. Auch der Anteil und der Gehalt an Wirkstoffen – Hanfpflanzen enthalten rund 100 verschiedene – schwankt stark.
Von einem „riskanten Großexperiment“ spricht daher Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter von der Bayerischen Akademie für Suchtfragen (BAS). Zumal es eben auch Risiken gibt: So besteht wohl auch bei medizinischer Anwendung ein gewisses Abhängigkeitspotenzial. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann sich Cannabis negativ auf das Gehirn auswirken und bei Menschen mit entsprechender Neigung Psychosen auslösen.
Die Experten beim Suchtforum warnten daher vor einem allzu sorglosen Umgang – und vor überzogenen Erwartungen der Patienten. Der Rummel um Cannabis sei überzogen, findet Tretter. Es sei aber auch kein „Teufelszeug“. Auch Dr. Heidemarie Lux zweifelt nicht daran, dass es Patienten mit schweren Erkrankungen gibt, für die cannabishaltige Arzneien eine „sinnvolle Ergänzung“ seien. Doch sei Cannabis eben auch ein Rauschmittel und „kein Allheilmittel“. Es müsse daher stets mit Augenmaß verordnet werden.