Maßgeschneidert
Der Hinterhof ist im Münchner Sprachschatz eine feste Größe gewesen, das Hinterhaus aber hat sich nie so recht durchsetzen können und ist zumeist vom Rückgebäude, vom „Riggebaid“ ersetzt worden. Wollte man die im Hinterhaus wohnenden Mieter nicht durch den Ausdruck „Hinterhäusler“ kränken, wo man doch auch von Zuchthäuslern sprach? Jedenfalls, wenn gefragt wurde, wo der Herr Gänsmantel oder die Frau Binder wohne, erhielten sie zur Antwort: „Im Riggebaid“. Rückgebäude, so umständlich das Wort auch dahinstelzt, es hat sich sicherlich aus dem Amtsdeutsch kommend im Sprachgebrauch festgebissen. Dem Postboten und der Zeitungsfrau war es ebenso geläufig wie dem Gerichtsvollzieher, womit freilich nicht gesagt sein soll, dass Letzterer dort häufiger Gast gewesen wäre als im Vorderhaus.
Besteht etwa wirklich ein Unterschied in der Bausubstanz zwischen Vorder- und Hinterhaus? In den meisten Fällen gibt es einen solchen Unterschied nicht. Meist ist es sogar so, dass die Rückgebäudler ihre zurückgesetzte Lage gern in Kauf nehmen: Schützt sie doch vor dem Lärm der Straße und beschert eine bescheidene Idylle, die einen Baum, vielleicht auch ein Stück Rasen zulässt und Blumenstöcke und Schnittlauch auf dem Balkon sprießen lässt.
Oft wohnt im Rückgebäude in einer Parterrewohnung der Hausmeister, von denen es bekanntlich solche und solche gibt. Einer, der der Bubenmeute einmal den Fußball konfiszierte, fand am Tag darauf in seinem Fahrrad je drei Reißnägel im Vorder- und im Hinterreifen. Auch heute bin ich noch nicht gewillt, den Namen dieses „Rächers der Enterbten“ preiszugeben.
Dem Hinterhof, in dessen Bereich sich das Rückgebäude meist unverrückbar an das Vordergebäude lehnt, haftet ein Hauch von verschämter Poesie an. Besungen von den Hinterhofsängern, die zwischen den beiden Kriegen, von Profession arbeitslos, mit traurigen, die Herzen der Mieter rührenden Liedern ihren schmalen Geldbeutel aufzufüllen suchten. Von einer tremolierenden Mundharmonika, einer schluchzenden Geige oder gar einer singenden Säge begleitet, schickten sie „die Rasenbank am Elterngrab“, „die Waldeslu-u-ust“ oder „das Marienkäferl“ die grauen Fassaden hinauf.
Die Kinder von Vorderhaus und Rückgebäude sammelten gemeinsam die in Zeitungspapierl gewickelten kleinen Münzen, die von den Fenstern herabregneten, und warfen sie trotz aller eigenen Gelüste in den Hut, der vor Sängern und Musikanten auf dem Boden stand. Durch manches Rückgebäude läuft ein rührseliger Schauder der Erinnerung, wenn, selten genug, der Rundfunk eine dieser alten, heute schon fast vergessenen Küchenlieder auflegt. Und da kann es dann passieren, dass sich eine alte Rückgebäudlerin spontan auf ihr Rückgebäude setzt und dem werten Rundfunk kund und zu wissen gibt, dass so was ruhig öfter gesendet werden sollte. Hochachtungsvoll Therese Hufnagel, München, Nostalgiestr. 17, Rückgebäude.
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unser Turmschreiber