München – Der Anruf kommt am späten Abend. Die Frau am anderen Ende der Leitung ist verzweifelt, weint. Und sie sagt Rudolf Starzengruber, sie wolle nicht mehr leben. Der 51-Jährige weiß, wie groß Verzweiflung werden kann. Er litt selbst Jahre lang unter Depressionen. Nur gab es damals das Projekt EX-IN noch nicht. Starzengruber hat lange gebraucht, bis er es schaffte, sich an einen Therapeuten zu wenden. Heute will er diesen Schritt für andere Betroffene leichter machen. Deshalb ist er einer der 26 oberbayerischen ausgebildeten Genesungsbegleiter.
Mit der Frau am Telefon ist er seit einiger Zeit in Kontakt. Er setzt sich nach ihrem Anruf sofort ins Auto, kurz darauf ist er bei ihr. Und hört zu, tröstet, erzählt von seinem eigenen Kampf mit den Depressionen. Nach einigen Stunden geht es ihr besser, Starzengruber muss nicht die Polizei verständigen, muss sie nicht in eine Klinik einweisen lassen. Er hat ein gutes Gefühl, als er mitten in der Nacht wieder zurück nach Burghausen (Kreis Altötting) fährt. „Solche Nächte sind ein Grund dafür, dass ich Genesungsbegleiter werden wollte“, sagt er.
Das Projekt EX-IN gibt es seit 2013 in Oberbayern, es ist bundesweit einzigartig. „EX-IN“ ist die Abkürzung für Experienced Involvement – Beteiligung von Erfahrenen. Menschen, die selbst Krisen oder psychische Erkrankungen überwunden haben, sollen anderen Betroffenen dabei helfen, besser zurecht zu kommen. Und sich Hilfe zu holen. Das Projekt wurde ein Jahr lang unter wissenschaftlicher Begleitung erprobt – und hat sich bewährt. Seit 2015 finanziert der Bezirk Oberbayern in Sozialpsychiatrischen Diensten den Einsatz von Genesungsbegleitern. „Ihr Wissen ist für die psychiatrische Arbeit von unschätzbarem Wert“, betont Bezirkstagspräsident Josef Mederer. Und nicht nur für die Betroffenen. „Sie eröffnen Sozialpädagogen und Therapeuten neue Perspektiven auf die Lage von Betroffenen.“ Die Genesungshelfer sieht er als eine Art Paten für Betroffene. Niederschwelliger könne Hilfe nicht funktionieren, betont er.
Dennoch wird das Projekt bisher nur in Oberbayern umgesetzt. Dort engagieren sich die Helfer in jedem Landkreis in Sozialpsychiatrischen Diensten. Sie stehen Betroffenen nicht nur in akuten Krisen zur Seite, sondern begleiten auch bei Behördengängen oder helfen bei dem Erstkontakt mit Ärzten oder Therapeuten. Josef Mederer kann sich gut vorstellen, dass das Projekt auch in anderen Regionen Bayerns sehr gefragt wäre. Ähnlich wie der Psychiatrische Krisendienst, der auch in Oberbayern startete und gerade bayernweit ausgebaut wird.
Rudolf Starzengruber war 2015 einer der ersten, der mit der Ausbildung zum Genesungshelfer begann. Sie dauerte zwölf Wochenenden lang, auch zwei Praktika bei entsprechenden Einrichtungen musste er absolvieren. Danach bekam er das Zertifikat – und über das Tageszentrum die ersten Kontakte vermittelt. Für ihre Arbeit bekommen die Genesungshelfer monatlich 450 Euro. „Das ist wie ein Mini-Job“, sagt Starzengruber. Vielleicht könnten daraus irgendwann auch halbe Stellen werden. Für ihn ist die Beschäftigung unheimlich wichtig. „Ich musste wegen meiner Krankheit damals meinen Beruf als Finanzbeamter aufgeben und in Frührente gehen“, erzählt er. „Für mich bedeutet es Lebensqualität, wieder arbeiten und ein bisschen was dazuverdienen zu können.“ Und für die Betroffenen sind die Helfer auf Augenhöhe oft die entscheidenden Brückenbauer aus der Krise. „Wenn eine Therapie begonnen hat, ziehen wir uns langsam zurück“, sagt Starzengruber. Manchmal bleibt der Kontakt aber – in einigen Fällen hält er sogar länger, als die Krise dauert.