Mit Widerwillen erinnere ich mich der Spaziergänge meiner Kindheit. Gestriegelt und geschniegelt durch den Nymphenburger Park hatschen, immer in Reichweite der Eltern, und endlich auf einer Bank sitzen und die anderen Langweiler vorüberdefilieren sehen, das sollte ein Sonntag sein? Außerdem: Wer ein Radl im Keller stehen hatte, warum musste der zu Fuß gehen? Schon damals kam mir vor, die Füße seien zum Treten da und nicht zum Marschieren, wie vielleicht noch in der Zeit der Völkerwanderung.
Den Eltern blieb der Unmut der Kinder nicht verborgen. Denn wir ließen den Kopf schon so tief hängen, dass wir beinahe darauf getreten wären. Vielleicht waren sie aber auch selbst mit dieser Art von Sonntagsgestaltung nicht recht zufrieden. Und so ging’s acht Tage darauf wieder gemeinsam auf den geliebten Radeln hinaus nach Deisenhofen und hinein in die Tiefe der Wälder zu Himbeerschlägen und Schwammerlgründen oder zu Badefreuden an den Starnberger See, wo wir erschauernd jenen Strand beschwammen, an dem König Ludwig unvergessen ertrunken war. Vielleicht weil er keinen aufgepumpten Autoschlauch dabeigehabt hatte wie wir?
Doch war die Hauptsache bei diesen Ausfahrten nicht das jeweilige Ziel, sondern das Radeln an sich, der permanent befriedigte Vorwärtsdrang, das Dahingleiten aus eigener Kraft, die „Erfahrung“ der Straßen und stillen Wege, das gleichzeitig Erdverbundene und Bodenentrückte dieser Art und Fortbewegung. Wenn nicht einem Rausch, einem Räuschlein sicherlich ist dieses mühelos gesteuerte Schweben vergleichbar, das zugleich pausenlos das Fernweh stillt.
Fürwahr, ich war ein begeisterter Radfahrer. Wunder ist das keines: Bin ich doch im gleichen Jahr geboren, indem die Radlermass von Franz Xaver Kugler auf der Kugleralm erfunden worden ist, jenes Gemisch aus hellem Bier und Zitronenlimonade. Und wie oft hab ich als Bub an dieser historischen Stätte am Masskrug meines Vaters genuckelt, wenn wir uns, auf der Heimfahrt begriffen, noch einmal stärkten für die letzten Kilometer über die Großhesseloher Brücke hinüber in die sonntagabendstillen Gefilde der Schwanthalerhöh’.
Jedem Buben war damals die Kunst des Radflickens geläufig. Mit unendlicher Hingabe hab ich meinen alten Drahtesel geputzt wie ein lebendiges Haflingerfohlen, dass die schon fast erblindeten Speichen wieder matt in der Sonne blinkten. Und hab ich nicht durch die Radl anderer auch eine Menge Geld verdient? Indem ich mich den vor dem Postamt angefahrenen Kunden mit den Worten „Derf i derweil aufs Radl aufpassen?“ andiente, sackte ich so manches Fünferl und Zehnerl ein. Nie kann ich mein erstes Radl vergessen.
Eines Tages hatte dann mein Vater die Idee, die ich ihm hartnäckig über Jahre hinweg suggeriert hatte: nämlich mir einen Halbrenner zu kaufen. Damit stieg ich mit einem Schlag im Ansehen meiner Straße und legte die Strecke nach Lochham zum Familienbad erstmals unter einer halben Stunde zurück. Natürlich war ich von nun an Dauergast bei den Radrennen auf der Münchner Amorbahn. Extrem betrieben ist Radfahren wohl der härteste Sport. Dennoch kann er im Sitzen ausgeübt werden und schont, im Gegensatz zum vielgepriesenen Jogging, Gelenke und Sehnen. Man braucht keinen Platz dazu wie beim Tennis und auch nicht unbedingt einen Partner. Radfahren baut außerdem Muskeln auf und Aggressionen ab. Nicht nur die naturbegeisterten Feld- und Waldwegerlbefahrer sind stark im Kommen, auch die sportlich ambitionierten Kurbeldreher im schicken Renndress und auf Geräten, die dann nicht mehr Radl genannt werden, sondern ehrfürchtig „Maschinen“. Seit nun die Elektromotoren vermehrt in die Bikes eingezogen sind, haben auch frühere Radmuffel aufgesattelt. Bergetappen? Kein Problem mehr.
Maßgeschneidert
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unser Turmschreiber