Auf dem großen Holztisch liegen allerlei Reliquien. Ein uraltes Hanfseil, Karabiner und Eisschrauben, vom Rost gezeichnete Haken, ein Paar Steigeisen. „Sie alle“, sagt Hermann Huber, „erzählen eine Geschichte.“ Seine eigene. Die von Gefährten. Und die der legendären „Taubenstein-Fanny“ vom Spitzingsee, mit der er seit 1956 verheiratet war. „Ihr habe ich unglaublich viel zu verdanken.“ Die Stimme stockt, der Blick wandert in die Ferne. „Leider ist sie vergangenes Jahr von uns gegangen.“
Wenig später sind die graublauen Augen hinter der Nickelbrille aber wieder fokussiert, Hermann Huber konzentriert sich in bemerkenswerter Geistesschärfe auf die Gegenwart. Er, vor Jahrzehnten einer der besten Kletterer seiner Zeit, kann bis heute nicht von den Bergen lassen. Seit über 50 Jahren lebt er in Unterhaching, gönnt sich aber seit 1982 auch eine kleine „Bergwohnung“ in Gaißach, genau in der Mitte zwischen Bad Tölz und Lenggries. „Mein alpines Basecamp“, sagt Hermann Huber. Aus dem Fenster im Westen schaut er auf Zwiesel und Benediktenwand, vom Balkon Richtung Osten direkt auf die Sonntratn sowie Geier- und Fockenstein. „Am liebsten bin ich auf der Bank, auf der wir gerade hocken – hier hat man den schönsten Isartalblick.“
Wenn Hermann Huber zurückschaut auf sein bewegtes Bergsteigerleben, dann waren die Gipfel teils mehrere tausend Meter höher. Seine Vergangenheit war auch für die Entwicklung der einstigen Münchner Firma „Sattler- und Lederwaren“ (Salewa) prägend. Dort fing er 1945 als Lehrling an, war von 1972 bis 1988 Geschäftsführer und wirkt bis heute beratend im Hintergrund.
Als Bergsteiger suchte Hermann Huber schon vor 70 Jahren Lösungen für Dinge, die es damals nicht gab: ein intelligentes Rucksacksystem mit Basis und abnehmbarem Part, Nylonseile mit Kernmantelkonstruktion, die erste Rohreisschraube, ein superleichtes Zelt mit Glasfasergestänge oder einen gewichtsoptimierten Hohlkarabiner.
Reitsättel, Lederfußbälle? Unter Hermann Huber reifte Salewa zu einem Bergsportausrüster, der in seiner Branche heute zur Champions League gehört und Teil der Oberalp-Gruppe des Südtirolers Heiner Oberrauch ist mit 600 Mitarbeitern weltweit und einem Jahresumsatz von rund 200 Millionen Euro.
All das resultierte aus der Experimentierfreude des gebürtigen Münchners, der in jungen Jahren an den abgespeckten Kieseln des historischen Klettergartens Buchenhain bei Baierbrunn im Kreis München seine Kletterkünste schulte, dort von damaligen Stars wie Otto „Rambo“ Herzog oder Eiger-Nordwand-Erstdurchsteiger Anderl Heckmair lernte und schließlich eigenständig in die große, weite Bergwelt hinauszog. Er setzte durchaus Markenzeichen mit extremen Touren: im Wilden Kaiser und im Karwendel, aber auch bei weltweiten Unternehmungen in Grönland, Nordindien, den USA oder in der Sahara. Immer und überall, egal ob am Spitzingsee oder in Jordanien, tüftelte Hermann Huber an Innovationen, die es für Bergsteiger zuvor nicht gab.
Das Nahe und das Ferne, Hermann Huber liebt beides. Beim Besuch in Gaißach piept plötzlich das Handy, einer seiner beiden Söhne meldet sich, aus Spanien. „Ich bin weltweit vernetzt, schreibe E-Mails in diversen Sprachen“, sagt der 87-Jährige. Was ihn geistig rege hält.
Natürlich, der Aktionsradius ist kleiner geworden. Echtes Felsklettern? Nach mehreren Schulteroperationen kaum noch möglich. „Aber das E-Bike ist für mich gerade noch rechtzeitig erfunden worden“, schwärmt der 87-Jährige von Mountainbike-Ausflügen im Isarwinkel. Auch wenn es neulich „einen Absteiger“ gegeben habe an der Roßsteinalm, einen Sturz also. Einen Hermann Huber wirft das nicht um.
Überhaupt, die heimischen Berge – da leuchten die Augen des 87-Jährigen. Wie er nach dem Zweiten Weltkrieg auf einem Kinderfahrrad vom Elternhaus in München-Harlaching in den Isarwinkel gestrampelt ist, an der Roßsteinnadel einen Klettergefährten aus Schlesien kennenlernte, später die Routen im Oberreintal im Wettersteingebirge erkundete. Minutiös erinnert sich Hermann Huber an jedes Detail seiner Begehungen, auch an „blöde Zwischenfälle. Ich führe ja seit 1945 Tagebuch.“ Ja, ein paar Mal habe es Situationen gegeben, bei potenziellen Stürzen „an windigen Standhaken“, wie Huber zugibt: „Da wäre ich weg gewesen.“ Weg, das heißt: tot.
Eine Erfahrung, die er indirekt auch über seine große Liebe machen musste, die 2017 verstorbene „Taubenstein-Fanny“. An den Ruchenköpfen. Sie hielt dort 1948 den 40-Meter-Sturz vom Huber Sepp, einem Leichtathleten des TSV 1860 München – statt des tödlichen Rucks überlebten beide wie durch ein Wunder. Genau 50 Jahre später war Hermann Huber mit einem befreundeten Arzt an gleicher Stelle unterwegs. Der Seilgefährte versäumte es, in der Fünfer-Route namens „Greifer“ zwei Sicherungshaken einzuhängen. Und stürzte vor Hubers Augen in den Tod. „Völlig irrational, wie die Schicksale verteilt sind. Meine Frau überlebt ein Kletterabenteuer, bei dem beide eigentlich keine Chance haben. Und dann das.“ Bis heute, sagt der 87-Jährige, leben von seinen einstigen Seilgefährten nur noch drei.
Am Berg zu sterben, ein Held seiner Zeit zu sein, wie sich manch junger Alpinist heute inszeniert? „Nein, ich war immer auf Sicherheit bedacht“, sagt Hermann Huber, schildert aber eine kritische Situation im Karwendel, „da habe ich der Fanny gegenüber heute noch ein schlechtes Gewissen“. Es ging, gerade mal, noch gut.
Auch Einladungen zu Achttausender-Expeditionen gab es für den hochtalentierten Bergsteiger, zu Broad Peak und Kangchendzönga. Aber Hermann Huber lehnte ab, mit Rücksicht auf Frau und Familie: „Höhenbergsteigen ist eine eigene Geschichte – da ist vieles unkalkulierbar.“
Und der Bergsport heute? Speedhiking, Bouldern? Huber lächelt. Über Dinge, die er schon vor 60 Jahren getan hat und die heute plötzlich anders heißen. Der 87-Jährige spricht vom „Baum des Alpinismus“, der sich in diverse Richtungen verzweigt. Aber anders als damals gebe es kaum noch echte Innovationen, trotz einer Outdoor-Messe nach der anderen: „Im Prinzip ist unsere Ausrüstung ziemlich perfektioniert. Angebliche Revolutionen sind Mikroverbesserungen, da lache ich ein bisserl.“
Auf der Holzbank seines Balkons in Gaißach streicht Hermann Huber etwas Butter auf die Vollkornsemmel, lässt den Blick über den Isarwinkel schweifen. An den Wänden seiner Bergwohnung, die einem persönlichen Museum gleicht, zeugen unzählige historische Aufnahmen vom Abenteuerklettern junger Jahre. Das Alter lässt die Ziele bescheidener werden, der 87-Jährige lebt von der Erinnerung, auch wenn es ihn immer noch in den Fingern juckt. Doch Klettern ist mit lädierter Schulter nicht mehr möglich, von Skitouren raten Ärzte ihm ab, „ich muss mit dem Gleichgewicht aufpassen“. Na ja, seufzt Hermann Huber, das E-Bike vergönne ihm noch so manchen Bergausflug. „Ein Segen“, findet er. „Ich habe das Glück, dass ich mich, wenn auch langsam, noch in den Bergen bewegen darf.“
„Wege & Weggefährten“
lautet der Titel seiner Webseite www.hermannhuber.de, auf der er selbst und Freunde mehr als ein halbes Bergsportjahrhundert mit Texten und Bildern zusammengefasst haben.