München – Jahrzehnte andauernde Heimlichkeiten, ein permanentes Doppelleben, Unehrlichkeit gegenüber Freunden, der Familie – und gegenüber dem Dienstgeber: Versteckte Liebesbeziehungen in der katholischen Kirche gibt es viele, gibt es seit Jahrhunderten. Offizielle Zahlen freilich kann auch Anselm Bilgri in seinem heute im Piper-Verlag erschienenen Buch mit dem Titel „Bei aller Liebe“ nicht präsentieren. Aber der frühere Benediktinermönch, der einst Prior im Kloster Andechs (Kreis Starnberg) war, weiß von kurzen Affären, jahrzehntelangen Beziehungen, anonymem Sex. Er will kein Skandalbuch über Sodom und Gomorrah vorlegen, sondern ein Plädoyer für eine Reform der katholischen Kirche. „Der Zölibat“, so urteilt er, „ist eine Lebenslüge.“
Die historische Entstehungsgeschichte des Zölibat-Gebotes, die theologischen Deutungsversuche und die zum Teil erschütternden Folgen des Scheiterns werden in dem Buch, das Bilgri zusammen mit dem Journalisten Gerd Henghuber geschrieben hat, in eindringlicher Weise nebeneinandergestellt. Henghuber hat mit einer Reihe von betroffenen Männern und Frauen gesprochen, die von ihren zum Teil jahrzehntelangen Leidensgeschichten erzählen.
Sexualität gehöre zur menschlichen Normalität. Es sei die „große Lüge der katholischen Kirche“, dass sie diese Normalität nicht anerkenne und stattdessen ein Ideal zur Norm mache, „dem kaum ein Mensch entsprechen kann“, schreibt Bilgri. Die lebenslange Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit von Priestern und Ordensleuten, die von Jesus keineswegs verlangt worden sei und für die es keine theologisch begründete Erklärung gebe, schaffen nur die „zölibatär Hochbegabten“, wie sie vom Berliner Therapeuten Joachim Reich genannt werden. Nach dessen Schätzung sind es maximal zehn Prozent, die auf Sexualität und körperliche Liebesbeziehungen verzichten können.
Reich, ehemaliger Ordensmann, behandelt Priester und Ordensleute, die regelrechte Traumata erleben, wenn sie sich gegenüber Vorgesetzten outen. „Das ganze kirchliche Gerede von der Barmherzigkeit entpuppt sich sehr schnell komplett als heiße Luft, wenn die Priester und ihr Umfeld genau das Gegenteil davon erfahren von Bischöfen, die allein nach Kirchenrecht vorgehen“, berichtet der Therapeut im Buch. In der Regel betrachte die Kirche Geistliche, die ihren Beruf aufgeben wollten oder müssten, als Abtrünnige, die ihre Berufung verraten. Aber in Bilgris Buch gibt es auch den verständnisvollen und wertschätzenden Bischof, von dem ein Priester erzählt. Der persönlich betroffen und traurig ist, als ihm der Pfarrer gesteht, dass er nicht mehr zölibatär leben kann. Wie Christian Ritterbach, Priester des Erzbistums Paderborn. Er bekommt noch drei Monate sein Gehalt. Aber dann müssen sich auch er und seine Freundin, die von ihm ein Kind erwartet, ein neues Leben außerhalb der Kirche aufbauen. Zurück bleibt eine verstörte Pfarrgemeinde, die den Seelsorger auch gerne mit Familie behalten hätte.
Der Zölibat ist für Bilgri einer der Gründe, der neben der Säkularisierung der westlichen Gesellschaft zum eklatanten Priestermangel geführt habe. Zugleich führe die Zusammenlegung zu großen Seelsorgeeinheiten dazu, dass viele Priester kurz vor einem Burn-out stehen. Laut Bilgri helfen auch nicht die Versuche, mehr Aufgaben auf Laien zu übertragen und die Priester aufs Sakramentspenden einzuengen. „Man muss nicht Laien berufen, weil man zu wenig Männer findet, die zölibatär leben wollen. Sondern man muss den Zugang zum Priesteramt verändern, um die Einheit von Gemeindeleitung und Vorsteherdienst bei der Liturgie aufrechtzuerhalten.“
Bilgri setzt große Hoffnung auf Papst Franziskus. Er habe die Bischöfe in Ansprachen zu mutigen Schritten aufgefordert, um das Wirken der Kirche zeitgemäß realisieren zu können. „Erst jetzt“, schreibt der ehemalige Benediktiner, „dürfen auch heiße Eisen offen angesprochen werden.“ Er hofft, dass sich Ordensobere und Bischöfe finden, die das Thema Zölibat offen und ehrlich auf die Tagesordnung setzen. „Es ist höchste Zeit, wenn die Kirche und mit ihr der christliche Glaube in unseren Breiten aufgrund des Priestermangels nicht verdunsten sollen.“ Warum dieses Buch? Bilgri antwortet: Weil er wisse, wie sehr Priester und Ordensleute unter dem Zölibat zu leiden hätten. Und weil die Katholiken unter dem Priestermangel litten. Der Zölibat betrifft seiner Meinung nach die Existenz der Kirche in den westlichen Ländern. Der Mangel an Priestern sei nicht erzwungen, „sondern kommt aus dem Innern der Kirche“.
Bilgris Buch liefert in der Zölibatsdebatte keine neuen Argumente. Aber es trifft die Kirche in einer Zeit, in der sie wegen des Missbrauchsskandals schwer angeschlagen ist.
Bei aller Liebe
Warum die katholische Kirche den Zölibat freigeben muss. Von Anselm Bilgri, 256 Seiten, 20 Euro, Piper Verlag