Brannenburg – Am Anfang wollte Hans Pleyer allein sein. Damals, im Jahr 1998, kurz nachdem sich sein Sohn Stefan im Alter von 23 Jahren das Leben genommen hatte, zog der Asslinger (Kreis Ebersberg) oft alleine durch die Berge, ging stundenlang querfeldein. Der introvertierte, schlanke Mann mit der sanften Stimme hatte sein Leben lang in der Natur Ruhe gefunden. Doch auf die Fragen, die ihn nun quälten, fand er keine Antwort. Wie konnte so etwas passieren? Wie konnte Gott es zulassen? Wieso habe ich nichts gemerkt? „Ich drehte mich im Kreis“, sagt der 77-Jährige heute. Besser ging es ihm nach seinen Touren nicht. Im Gegenteil: „Ich wusste, meine Frau und unsere zwei Töchter haben auch schwer zu tragen. Die wollte ich nicht allein lassen.“
Vier Jahre ging das so. Dann wurde alles anders – durch den Verein „Verwaiste Eltern“. Er bietet trauernden Müttern und Vätern Hilfe sowie Kontakte zu Menschen, die das Gleiche durchmachen. Die Mitglieder treffen sich bei Veranstaltungen, unterstützen sich über WhatsApp und geben ihre Erfahrungen weiter. „Manche Eltern kommen sofort zu uns, andere erst nach Jahren“, erklärt Susanne Lorenz, die Münchner Geschäftsstellenleiterin des Vereins. „Viele bleiben Jahrzehnte dabei.“
An diesem Tag wandert Susanne Lorenz mit 38 verwaisten Eltern zum Berggottesdienst in der Wallfahrtskirche Maria Schwarzlack bei Brannenburg (Landkreis Rosenheim). Die Wanderung findet jedes Jahr statt, seit 2004 leitet Prälat Hans Lindenberger die Messe. „Er macht das sehr einfühlsam“, sagt Pleyer. Dieses Mal spricht Lindenberger zu den sieben Schmerzen Marias. Auch sie musste ihr eigenes Kind beerdigen, auch sie kennt dieses größte Leid. Den Schmerz anzunehmen, ihn vielleicht zu überwinden, aber ihn nicht zu verdrängen, Kraft zur Gestaltung des Lebens geben – das sind heute Lindenbergers zentrale Themen.
Damit das gelingt, setzen die verwaisten Eltern auf Rituale. Seit 2004 tragen sie die Namen der Verstorbenen in das gleiche Buch ein. Gegen Ende der Zeremonie lesen sie sie laut vor. „Man kennt die Schicksale der anderen“, sagt Pleyer. „Jeder Name schmerzt. Aber wenn das eigene Kind an die Reihe kommt, wühlt das noch einmal viel auf.“
Inzwischen ist er dafür dankbar. „Am Anfang dachte ich, das Schicksal immer wieder erzählen zu müssen, breche nur die alten Wunden auf“, sagt Pleyer. „Aber durch die Verwaisten Eltern merkte ich: Es ist nötig, um mit sich ins Reine zu kommen.“ Selbst Freunden falle es oft schwer, die richtigen Worte im Umgang mit trauernden Eltern zu finden. „Das kann nur verstehen, wer es selbst erlebt hat“, glaubt er. Am schwersten zu verarbeiten sind die kleinen Dinge, sagt Pleyer. Sein Sohn war sportbegeistert, spielte Wasserball, fuhr Fahrrad. Beim Abendessen schlug er deswegen ordentlich zu. „Am Ende standen immer alle Töpfe bei ihm.“ Von einen Tag auf den anderen war das nicht mehr so, das Geschirr wurde kaum noch bewegt. „Da merkt man jedes Mal: Es fehlt jemand.“
Bei den trauernden Eltern fand Pleyer Menschen, die ihn unterstützen. Menschen wie Silvia Riedel aus Grafing (Kreis Ebersberg). Auch ihr Sohn nahm sich das Leben, mit 17. Die alleinerziehende Mutter hatte ihn jede Woche zum Fußball gefahren, viel Zeit mit ihm verbracht. Kommende Woche hätte er Geburtstag. „Da ist es wichtig, zu wissen: Ich bin nicht allein“, sagt die 59-Jährige. Die anderen Gruppenmitglieder verstehen, was sie meint.
„Suizid ist bei jungen Menschen eine häufige Todesursache“, erklärt Susanne Lorenz. Im Verein gibt es aber auch Eltern, die ihre Kinder durch Unfälle oder Krankheiten verloren haben. „Der Schmerz ist immer der gleiche.“ Deshalb wünscht sich Lorenz, dass sich trauernde Eltern nicht zurückziehen. „Trauer kann einsam machen, weil die meisten Eltern denken, sie müssten damit alleine klar kommen.“ Aber das stimme nicht. „Wir sind mit Gruppen in ganz Bayern für sie da.“
Weitere Infos
zum Verein gibt es unter: www.ve-muenchen.de.