Pfarrer Kaspar Wurfbaum aus Bruck bei Grafing im damaligen Bezirk Ebersberg schreibt 1918 in sein Tagebuch:
Freitag, 8. November: In München ist die Revolution ziemlich unblutig durchgeführt worden, an der Spitze des neuen Ministeriums steht – Kurt Eisner! Der König hat abgedankt! Bei uns wird die Veränderung mit gemischten Gefühlen aufgenommen.
In Neufahrn bei Freising beginnt der 14-jährige Schüler Arthur Schreyer, der jeden Tag zur Schule nach München fährt, ein Tagebuch.
Ich ging gerade in die französische Stunde, es war aber noch zu früh, deshalb habe ich das, was ich jetzt erzähle, alles gesehen. Die Soldaten sperrten die Bayerstraße ab und steckten statt der schwarz-weiß-roten Kokarde rote Fleckchen hin.
Mit Kokarden meint der Schüler das Hoheitsabzeichen, das jeder Soldat an der Mütze hatte. Er fährt fort:
Ungeheuer viel Zivilvolk stand dabei. Das Militär hatte eine große rote Fahne. Natürlich konnte keine Straßenbahn mehr fahren. (…) Das Militär zum Mathäser. Dort wählten sie einen Soldatenrat. Auch Offiziere wurden hineingeschleppt. (…)
Auf dem Bahnhofsplatz ging’s zu wie auf einem Schlachtfelde. Die Soldaten schrien: Alles Militär der Fahne nach. Nieder mit dem Kaiser! Hoch die Freiheit! Hängt den Kaiser auf! Hoch die Revolution! (…) Am Stachus wurde ein alter Offizier geohrfeigt, weil er sich den Soldaten nicht anschließen und die schwarz-weiß-rote Kokarde nicht von der Mütze nehmen wollte. (…) Nun ging’s wieder im Sturm auf die Türkenkaserne und Waffenhäuser, um Waffen und Munition zu bekommen. In der Türkenkaserne wurde ein Feldwebel erschossen und ein Leutnant erstochen, weil sie sich weigerten, die Waffen herauszugeben. (…)
Es ist bekannt, dass es einzig bei der Erstürmung der Türkenkaserne zu Gewalttätigkeiten kam, in der Münchner Stadtchronik ist das „Werfen von Gasbomben“ erwähnt. Doch die Tötung von Soldaten ist nicht nachweisbar, wahrscheinlich irrt der Schüler hier und gibt – durchaus symptomatisch für die unruhigen Revolutionstage – Gerüchte wieder.
In Bruck drücken Pfarrer Wurfbaum noch andere Sorgen:
27. November: Die Kirchmaierin hat wieder ein Schlag getroffen; der jüngere Wirtsbub leidet an starker Grippe, der Geißbub hat sich Hals und Magen verbrannt, ist auf dem Wege zur Gesundung.
Die politischen Ereignisse verfolgt Wurfbaum aber natürlich auch – mit Sorge. Er schreibt:
29. November: In Berlin tagte der Vollzugsrat, bei dem 95 Prozent der Redner Juden waren. Auch Kurt Eisner war mit Extrazug in Berlin.
1. Dezember: Die Namen der glücklichen Mitglieder des Arbeiter- und Bauernrates werden bekannt; im ersten sitzen lauter Münchner U.S. (Unabhängige Sozialdemokraten), im zweiten fast nur Bauernbündler.
Bauernbündler: Diese linkspopulistische Abspaltung von der konservativ-katholischen Zentrums-Partei (ab 1918: Bayerische Volkspartei – BVP) war schon im Kaiserreich entstanden. 1918 unterstützte der Bauernbund um die Gebrüder Gandorfer die Revolution. Doch es gibt auch lokale Nachrichten, gute wie schlechte:
10. Dezember: Die Militärpferde werden jetzt durch den Bauernrat versteigert.
11. Dezember: Der Distriktsschulinspektor hält Visitation in den Unterklassen ab. Die Leistungen der Kinder sind nicht befriedigend.
29. Dezember, ein Sonntag: In seiner Predigt widmet sich der Pfarrer ausführlich den heimgekehrten Soldaten.
Wir haben uns heute hier versammelt, um die anwesenden Krieger zu begrüßen, ihnen zu danken, und auch die Krieger werden heute ein Te Deum im Stillen sprechen für ihre Wiederkehr aus Schlacht und Krieg! (…) Euer Heldentum hat es vermocht, dass unsere Häuser noch stehen, unsere Felder noch blühen, unsere Kirchtürme noch ragen. Und deshalb seid ihr monate- und jahrelang fort gewesen, habt die härtesten Kriegsmühen getragen in Schlamm und Schmutz, geplagt vom Ungeziefer (…) Ihr seid die Retter des Vaterlandes, ihr seid die Retter der Heimat, und darum habt Dank, heißesten unauslöschlichen Dank für Eure Taten!
Am 12. Januar findet die Bayerische Landtagswahl statt. Missvergnügt notiert Wurfbaum, der Anhänger der Bayerischen Volkspartei ist, die lokalen Ergebnisse:
Bruck ist der Vergangenheit treu geblieben: Bauernbund 276, Volkspartei 32, Sozialdemokraten 15, letztere dürften hauptsächlich Tagelöhner und Soldaten sein. (…) Immerhin, im Bezirk Ebersberg insgesamt ist es anders:
Die Volkspartei hat einen geringen Vorsprung vor dem Bauernbund.
Der 21. Februar ist ein Einschnitt in der Geschichte der Revolution: Der Offizier Graf Arco ermordet mitten in München den Revolutionsführer Kurt Eisner. Pfarrer Wurfbaum ist an diesem Tag in Moosach bei München. Er notiert:
Gegen 11 Uhr aus der Richtung München wiederholt Kanonenschüsse. Mittags wird berichtet (…), dass Eisner erschossen worden sei, ebenso sein Mörder – ein Student. Abends berichtet der Mair, welcher heute in München war, folgendes: Graf Arco habe den Eisner erschossen, er sei dann auch erschossen worden; ebenso seien erschossen: Auer und Abg. Osel (…) ferner Roßhaupter (…). Vom Erzbischof wisse man es nicht bestimmt.
Mit Auer ist Erhard Auer gemeint, der SPD-Vorsitzende, mit Roßhaupter der Arbeitsminister. Beide werden tatsächlich durch den linksgesinnten Arbeiter Alois Lindner im Landtag niedergeschossen, wobei Auer schwer, Roßhaupter nur leicht verletzt wird. Der Abgeordnete Heinrich Osel – er gehörte zur katholischen BVP – überlebt eine offenbar von der Besuchergalerie des Landtags abgegebene Salve hingegen nicht. Der Erzbischof, um den es geht, ist kein anderer als Michael von Faulhaber. Auch er berichtet in einem Tagebuch, wie er die dramatischen Stunden erlebte:
21. Februar: Auer hatte an das Ordinariat geschrieben, dass er es anheim stelle, wie früher Eröffnungsgottesdienste zu halten. (…) Auch Eisenberger und andere Bauernbündler sind drinnen. Wir gehen zu Fuß heim, Prannerstraße abgesperrt, viele Leute dort, fünf Minuten vor 10 Uhr höre ich einen und dann fünf Schüsse, große Panik – Herren kommen vom Landtag zurück: Eisner erschossen. (…) Das ist sehr schlimm, Bayern war auf dem Weg zur Ruhe und Gott weiß, was jetzt wieder kommt.“
Pfarrer Wurfbaum notiert über die Münchner Situation:
21. Februar: Von abends 7 Uhr ab dürfe sich niemand mehr auf der Straße aufhalten; alle Lokale seien zu sperren. Von Automobilen und 12 Luftschiffen seien Flugblätter abgeworfen worden, in denen der Belagerungszustand verkündigt wurde.
Auch Faulhaber berichtet über die Flugzeuge:
21. Februar: Nachmittags warfen mehrere Flugzeuge Flugblätter ab, die das fluchwürdige Verbrechen verurteilen, aber zur Ruhe auffordern. (…) Um 19 Uhr muss alles daheim sein. Die ganze Nacht wird geschossen, bald dort, bald einzelne Schüsse, bald mehr. In der Klinik werden drei verwundete Arbeiter eingeliefert. (…) Diesen Abend wusste kein Mensch, ob die Stadt in der Hand der Spartakisten oder der Regierungstruppen sei.
Pfarrer Wurfbaum schreibt: 22. Februar: Auer wird heute operiert, Roßhaupter ist verwundet. Der Erzbischof wurde als Geisel gefangen, um ein Trauergeläut zu erzwingen.
Das stimmt nicht, aber selbst Faulhaber berichtet über Gerüchte, dass er aufgehängt werden solle. Er empfängt zwei Matrosen, Abgesandte der Revolutionäre, die Trauerbeflaggung an allen Kirchen fordern.
23. Februar: Im ganzen Land sollen von den Kirchentürmen schwarze Fahnen morgen bei der Beerdigung von Eisner ausgehängt werden. „Er war das Haupt des Landes, also …“ Sie wollen es nicht mit Gewalt tun, sondern gütlich erreichen.
Am 26. Februar wird Kurt Eisner beigesetzt. Hunderttausende sind auf den Straßen. Kardinal Faulhaber berichtet:
Von 10 bis 10:30 Uhr müssen alle Glocken des Landes läuten. Hier sind die Kirchtürme schwarz beflaggt. Der Wind stürmt und heult um die Häuser. Der Zug geht von der Theresienwiese mit feierlicher Trauermusik, ein langer Zug durch die Nußbaumstraße zum Ostfriedhof. Eine große Trauerschießerei setzt ein.
27. Februar: Die öffentliche Lage äußerst kritisch. Die sozialistische Gruppe hat keinen Führer. Das ist der Nachteil von ganz großen Führern, dass nach ihrem Tode keine Führer da sind.
Faulhaber behält recht. Am 17. März wird zwar eine SPD-geführte Landesregierung um Ministerpräsident Johannes Hoffmann installiert, sie flieht jedoch Anfang April nach Bamberg. In München greifen radikalere Gruppen nach der Macht. Pfarrer Wurfbaum berichtet aus Bruck:
7. April: In München ist die Räterepublik ausgerufen (worden). Gegen 3/4 12 Uhr telefoniert das Bezirksamt, dass um 12 Uhr die Räterepublik ausgerufen wurde (gemeint ist: auch in Ebersberg), dass Nationalfeiertag sei und von 12 bis 1/2 1 Uhr geläutet werden muss; letzteres geschieht.
Am 13. April versucht eine von der Regierung Hoffmann entsandte „Republikanische Schutztruppe“, Mitglieder des revolutionären Zentralrats, darunter auch der Literat Erich Mühsam, zu verhaften. Der sogenannte Palmsonntagsputsch scheitert, doch es gibt Tote und Verletzte. Der Schüler Arthur Schreyer schreibt: Meine erste Feuertaufe. Als ich gestern von meinem Geschäft zum Hauptbahnhof fuhr, um mich zu erkundigen, wie es mit der Zugverbindung steht, war der ganze Bahnhof voll Leute. (…) Durch die vergitterten Fenster sah man innen die Bahnhofwache, einen Haufen Militär mit Maschinengewehren und die Bajonette aufgesteckt auf die langen Infanteriegewehre. (…) Ich ging dann einige 100 Meter weg. Die angekommenen Soldaten stürmten den Bahnhof mit aufgepflanzten Bajonetten, Trommelwirbel und Gewehr- und Maschinengewehrfeuer. (…) Immer mehr Soldaten kamen. Auf einen Schlag fingen sie an zu schießen, blindlings umher. Das Maschinengewehrfeuer war schrecklich. (…) Die Leute liefen in Panik davon. Die Kugeln pfiffen mir um die Ohren ssst-ssst. (…) Natürlich gab es viele Tote und Verwundete, wie später bekannt wurde 60-100! (Diese Angaben sind übertrieben, wahrscheinlich gab es 21 Todesopfer).
Auch Pfarrer Wurfbaum hört im Bezirk Ebersberg davon:
14. April: In München muss gestern in der Bahnhofsgegend gekämpft worden sein. (…) Die Räteregierung soll wieder oben auf sein. (…)
Ende April rücken Regierungstruppen, verstärkt durch Freikorps, gegen München vor. Ihr Ziel: Sie wollen die „rote Herrschaft“ beenden. Bald kommt es im Umkreis Münchens zu heftigen Schusswechseln, in München dann auch zu Hinrichtungen. Pfarrer Wurfbaum berichtet:
29. April: Heute Nacht war das erste Gefecht, und zwar in Haar; es wurde nach Grafing berichtet, dass dorthin eine Gruppe aus München eingetroffen sei (offenbar Angehörige der Roten Armee). Von der Grafinger Schutzwehr sind mit Auto 50 Mann hinauf gefahren. Die Münchner waren in einem Gasthaus. Grafing stürmt, dabei fallen 2 Mann. (…) Der gefallene Leutnant liegt im Grafinger Leichenhaus. (…) Hr. Pr. erzählt, dass im Leichenhause sich häßliche Szenen abgespielt haben: Frauen, darunter Fr. Hauptlehrer Bayerlein und Fr. Ingenieur (Name unleserlich), hätten höhnisch ihre Freude über den toten Leutnant ausgedrückt. (…) Es ist ein Ultimatum nach München ergangen: Wenn bis 1. Mai die Übergabe nicht erfolgt ist, beginnt die große Offensive.
30. April: In Glonn ist ein gefährliches Mitglied der Roten Armee verhaftet worden. (…) Er ist ein Glonner, (…) trägt Marinemütze, Militärmantel, er mag gut in den 30ern sein. Zu Fuß war er von München gekommen mit Handgranaten und Patronen.
2. Mai: Nachmittags 4 Uhr 50 ergibt sich Kolbermoor; das Grafinger Freikorps nimmt die Besetzung vor. Aus München sind die Grafinger ohne jeglichen Verlust heute Nachmittag auf 2 Lastautomobilen zurückgekehrt; es ist ihnen gelungen, als Erste in die Residenz einzudringen und auch 1 Geschütz zu erobern.
4. Mai: Das Gerücht weiß u.a. von 8000 Toten, welche der Münchner Kampf gekostet haben soll. (Das ist überhöht, tatsächlich geht man heute von bis zu 1000 Toten aus.) Das von Kolbermoor nach Grafing zurückgekehrte Freikorps zieht nachmittags festlich in seiner Heimatstadt ein, abends ist dann beim Kastenwirt Kriegerball.
Zusammenstellung: Dirk Walter