Wie der Dialekt zum Regiolekt wird

von Redaktion

BAIRISCH Unsere Sprache lässt sich mit feinen Zwischenstufen beliebig dosieren

VON HELMUT BERSCHIN

Das „Statistische Jahrbuch für Bayern“ enthält vielfältige Informationen zur Bevölkerung des Freistaates. Über die Sprache(n) des Landes gibt es allerdings keine Auskunft, dieses Merkmal wird nicht erhoben.

Aber ist ein Sprachzensus überhaupt nötig? Bayern gehört zum deutschen Sprachgebiet in Mitteleuropa und dieses ist dialektal gegliedert, im Falle Bayerns: Schwäbisch im Regierungsbezirk Schwaben, Fränkisch in Franken und Bairisch in Altbayern (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz). Zusammen mit Österreich (außer Vorarlberg) und Südtirol zählt das bairische Sprachgebiet insgesamt 16 Millionen Einwohner.

Wie viele Bairischsprecher gibt es? Bis vor 100 Jahren hätte man die Zahl der Einwohner des Sprachgebietes als Richtwert angesetzt; denn fast alle waren bairische Muttersprachler. Heute findet man diese Rechnung nur noch im Internet: Wikipedia (Stichwort: „Bairische Dialekte“) kommt auf „mehr als 13 Millionen Sprecher“. Vorsichtiger ist die UNESCO, die Bairisch zwar 2009 in die Liste der weltweit vom Aussterben bedrohten Sprachen aufnahm, aber zur Sprecherzahl nur allgemein bemerkt: „Nicht verfügbar, aber in Millionenhöhe“.

Fragen wir also die Leute selbst. Nach einer Allensbach-Umfrage von 1998 antworteten auf die Frage „Können Sie den Dialekt dieser Gegend sprechen?“ in Bayern 72 Prozent mit „Ja“. Zum Vergleich: Der Dialektforscher Bernhard Stör stellte bei seinen Erhebungen zur „Sprachregion München“ etwa gleichzeitig fest, dass in der Stadt München von 1309 getesteten Schülern nur 21 (einundzwanzig!) dialektkundig waren (also knapp zwei Prozent).

Einerseits 72 Prozent Bairischsprecher, andererseits zwei Prozent – kann das stimmen? Des Rätsels Lösung liegt in dem Wort Dialekt, das in der Alltagssprache eine viel breitere Bedeutung hat als in der Fachwissenschaft. Jemand spricht Dialekt kann alltagssprachlich bedeuten, dass die Sprache einer Person eine regionale Färbung in der Aussprache hat. In diesem Sinne wurde der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl von den Medien gerne wegen seines „pfälzischen Dialekts“ belächelt. Aber die öffentlichen Reden Kohls waren in Wortschatz und Grammatik standarddeutsch: Lediglich die Aussprache verriet seine Herkunft: Kohl sprach mit pfälzischem Akzent, aber nicht Pfälzisch – genauso wenig wie ein Franzose, der Deutsch mit französischem Akzent ausspricht, Französisch redet.

Wir wissen nicht, wie viele Bairischsprecher es gibt. Doch stimmen alle Beobachtungen darin überein, dass die Zahl in der jungen Generation stark abnimmt und damit der Dialekt an die folgenden Generationen weniger weitergegeben wird. Dieser Dialektschwund hängt auch mit dem Status der Dialekte in Deutschland zusammen: Im Unterschied zu Deutsch, das Amts- und Schulsprache ist, haben die Dialekte keinen öffentlichen Status und gelten auch nicht, wie in der Schweiz, als allgemeine mündliche Verkehrssprache.

Bairisch ist – wie die meisten der 6000 Sprachen der Welt – nicht standardisiert, es kommt in vielen lokalen Varianten vor und hauptsächlich in gesprochener Form. Natürlich kann man es auch schreiben, aber eine ausgebaute „Schriftsprache“ war Bairisch nie. Für die Masse der schriftlichen Kommunikation verwendete man andere Sprachen: im Mittelalter Latein, in der Neuzeit Hochdeutsch.

Hoch-deutsch war ursprünglich eine Sammelbezeichnung für die Dialekte des bergigen Mittel- und Süddeutschland (einschließlich Bairisch) in Abgrenzung zu Nieder-deutsch bzw. Platt-deutsch, den Dialekten im flachen Norddeutschland. Durch die Bibelübersetzung Martin Luthers, die sprachlich auf einem Mix hochdeutscher Dialekte beruhte, entstand eine allgemeine deutsche Schriftsprache, die sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts deutschlandweit durchsetzte. Damit veränderte sich die Bedeutung von Hochdeutsch, das nun einen sozialen Sprachstandard bezeichnete: das Deutsch der Gebildeten, der höheren Schichten, das sich von den Volksdialekten abhob. Heute ist diese Bewertung veraltet, weshalb für die Gegenwartssprache der Begriff „Standarddeutsch“ besser passt.

Im Unterschied zu anderen Nationalsprachen wie Französisch, Englisch oder Spanisch, bei denen sich geschriebener und gesprochener Standard gleichzeitig entwickelten, blieb Deutsch bis in das 19. Jahrhundert nur Schriftsprache: Schriftdeutsch. Deutschland hatte kein politisches und kulturelles Zentrum – vergleichbar mit Paris, London oder Madrid – mit einer sprachlich tonangebenden Gesellschaft, sondern viele kleine Zentren. Die kulturelle Elite Deutschlands traf sich nicht im Salon, sondern verkehrte brieflich. Und wenn man sich traf, dann redete man schriftdeutsch, jeder mit seinem Regionalakzent: Schiller schwäbelte, Goethe frankfurterte.

Der Großteil der Bevölkerung kam fast drei Jahrhunderte lang mit dem Schriftdeutschen wenig in Berührung. Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch eine Reihe von Faktoren wie allgemeine Schulpflicht, Wehrpflicht, Verstädterung, Massenverkehrsmittel (Eisenbahn), Tageszeitungen sowie politisch durch eine nationale Bewegung, die schließlich 1871 zur Gründung des Deutschen Reichs führte.

Die Schriftsprache Deutsch wurde damit eine Sprache für Alle, niemand konnte sich mehr ihr entziehen, und auch in gesprochener Form breitete sie sich aus – auf Kosten der Dialekte.

Den Zeitgenossen war dieser Dialektrückgang durchaus bewusst: Auf dem Deutschen Philologentag 1879 in Trier kam der Dialektologe Philipp Wegener für die Zukunft der Dialekte zu folgendem Fazit:

Die Volksdialekte […] sind sämtlich dem Untergang geweiht, dem allmählichen Aufgehn in der allgewaltigen Schriftsprache.

Diese „allgewaltige Schriftsprache“ wurde in den 1920er bis 1960er Jahren durch die audiovisuellen Medien (Radio, Tonfilm, Fernsehen) auch überall hörbar und drängte als mündliche Verkehrssprache die Dialekte zurück. Man muss kein Sprachwissenschaftler sein, um festzustellen, dass Bairisch heute nicht mehr die Hauptsprache in Altbayern ist. Aber folgt daraus der „Untergang“?

Das hängt davon ab, welches Bairisch man meint? Der Dialekt lässt sich nämlich dosieren, und genau das meint der Kabarettist Christian Springer, wenn er sagt: „Ich spreche [Bairisch] schon so, dass die Leute mich verstehen.“

Der Dialektsprecher, der ja heute zweisprachig ist, kann Bairisch an Standarddeutsch anpassen: Aus bairisch I woas need wird dann über I weiß need und Ich weiß net standarddeutsch Ich weiß nicht. Die Zwischenstufen sind weder reiner Dialekt noch Standard, sondern eine Mischung aus beiden, eine regionale Umgangssprache, die in der Germanistik als „Regiolekt“ bezeichnet wird. Typisch für den Regiolekt ist auch der Sprachwechsel (code-switching) innerhalb derselben Äußerung: Im Grunde genommen is dees egal; Das ist ghupft wia gsprunga oder?

Kommunikativ verbindet der Regiolekt die Vorteile des Dialekts und der Standardsprache, nämlich Heimatverbundenheit und große Reichweite, weil er auch für Nicht-Dialektsprecher verständlich bleibt.

Seit Kurzem erreicht man mit dem (ober)bairischem Regiolekt auch das Weltall: Die Raumfahrtingenieurin Berti Meisinger betreut vom Kontrollzentrum Oberpfaffenhofen aus den deutschen Astronauten Alexander Gerst, möchte aber in der abgeschlossenen Raumkapsel nicht mit ihm tauschen: Auf die Dauer, sagt sie standarddeutsch, um dann auf gut Bairisch fortzufahren, glaub i, daads ma scho auf d Nervn gehn.

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Hochdeutsch: Die Dialekte im Süden

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