Kommilitone Erwin

von Redaktion

Er hat sich hochgeackert, ist tief gefallen und hat trotzdem immer weitergemacht. Nach vier Jahrzehnten im Landtag ist für Erwin Huber Schluss. Statt im Plenum sitzt der Ex-CSU-Chef jetzt im Hörsaal.

VON DOMINIK GÖTTLER

München – Als der Professor Thomas von Aquin zitiert, kratzt sich Erwin Huber kurz am Hinterkopf, zückt dann seinen blauen CSU-Kugelschreiber, eine kleine Erinnerung an seine alte Welt, und macht sich eine Notiz. Huber, 72 Jahre alt, sitzt im Hörsaal der Hochschule für Philosophie in München. Vor ihm: Block, Ipad, Fachliteratur, Brillenetui. Um ihn herum: halb volle Kaffeetassen, Zweckmobiliar und rund 70 Philosophie-Studenten, mit denen Professor Georg Sans an diesem Tag der Frage nachgeht, ob Gott menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden können. Aristoteles und Kant statt Seehofer und Söder – das ist die neue Welt des ehemaligen CSU-Parteivorsitzenden Erwin Huber. Von der Politik zur Philosophie. Huber ist jetzt Kommilitone.

Mehr als 50 Jahre ist es her, dass Huber zum Kreisvorsitzenden der Jungen Union gewählt wurde. Der Start einer politischen Karriere, die, wie alles im Leben des Niederbayern, von unverwüstlichem Fleiß geprägt war. Als Sohn einer alleinerziehenden Landarbeiterin schuftete er sich hoch. Vom Generalsekretär über verschiedene Ministerposten bis zum Höhepunkt seiner Laufbahn, der gleichzeitig ein Tiefpunkt werden sollte: 2007 setzte er sich in der Wahl zum Parteivorsitzenden gegen Horst Seehofer durch – um exakt ein Jahr später gemeinsam mit Ministerpräsident Günther Beckstein über ein Landtagswahlergebnis zu stürzen, für das Markus Söder heute wohl seine geliebte Lichtschwerter-Sammlung geben würde.

Dass Huber sich nicht schon damals in den Hörsaal der Jesuiten-Hochschule zurückzog, ist durchaus außergewöhnlich. Stattdessen setzte er sich demütig in Reihe drei des Landtags und machte, was ein Abgeordneter eben macht: Sacharbeit. „Ich begreif’s als Dienst“, sagte er damals. „Wenn’s halt nicht im Kardinalsrang geht, mach’ ma als Weihbischof weiter.“ Vereinzelte Spitzen gegen seinen ärgsten Widersacher, den Noch-Parteichef Seehofer, ließ sich Huber natürlich nicht nehmen. Auch ein Weihbischof darf predigen.

Doch selbst für einen Bischof ist mal Schluss. Mit der Konstituierung des neuen Landtags endeten Hubers vier Jahrzehnte als Abgeordneter. Diesmal freiwillig. Aber Erwin Huber wäre nicht Erwin Huber – Klassenbester in der Realschule, bester Absolvent der Steuerfachschule, Abitur am Abendgymnasium mit einer Eins vor dem Komma –, wenn er auch mit 72 Jahren nicht noch eine Herausforderung suchen würde. „Ich habe mich jetzt 50 Jahre in der Welt der Zahlen und Fakten bewegt“, sagt der Wirtschaftsexperte. „Jetzt ist es Zeit, in die Welt des Geistes einzudringen.“

Einer seiner jungen Kommilitonen habe ihm nach der Vorlesung kürzlich zugeraunt: „Schön, dass Sie nach der Politik noch etwas Gescheites machen.“ Etwas Gescheites, das ist der Teilzeitstudiengang „Philosophicum“. Regelstudienzeit vier bis sechs Semester, mündliche Prüfungen, zwei Seminararbeiten, 228,50 Euro Gebühren pro Semester. Huber zieht seinen Studentenausweis aus der Tasche, zeigt sein verschmitztes Huber-Grinsen und sagt: „Der Teufel hat mich an die Uni gebracht.“

Damit meint der einstige Oberministrant natürlich nicht den Satan, sondern den ehemaligen Baden-Württemberger Ministerpräsidenten Erwin Teufel, der ebenfalls an der Hochschule für Philosophie in München ein spätes Studium antrat und Huber damit inspirierte. Seit Mitte Oktober verbringt Huber von Montag bis Mittwoch je einen halben Tag in der Hochschule und büffelt. „Das waren die dichtesten drei Wochen meines Lebens“, sagt er. Er sei begeistert von der Disziplin seiner Mitstudenten – kein Vergleich zu seiner ersten Studienzeit, als beim Professor aus Empörung schon mal ein rohes Ei auf dem Pult landete.

Huber sitzt an diesem Tag im Hörsaal, wie er oft im Landtag saß. Mehr horizontal als vertikal. Er lehnt fast am Laptop des Kommilitonen hinter ihm, die Hand über den Mund gelegt, und lauscht. Professor Sans doziert über die positive Seins-Pyramide Platons, das Euthyphron-Dilemma und den Atheismus-Streit von 1798. Themen, die in der Geisteswelt des Volkswirtschaftlers Huber bislang ein eher deflationäres Dasein fristeten. „Aber das ist ja der Sinn der Übung“, sagt er. In der Politik werde man zum Denken gezwungen. „Hier macht man es freiwillig.“

Huber hat die Politik immer wieder als Sucht beschrieben. „Man hängt, überspitzt gesagt, an der Nadel“, gestand er dem „Spiegel“. Wie es scheint, zieht Huber die Nadel langsam aus dem Arm. Nietzsche und Hegel sind sein Methadon.

Aber es ist kein kalter Entzug. Huber sitzt noch immer im CSU-Parteivorstand, engagiert sich weiter in der Lokalpolitik seiner niederbayerischen Heimat. Die letzte Vorlesung hat er wegen einer Kreistagssitzung sausen lassen. „Ich mache den Wellenschlag der CSU schon noch mit.“ Die Partei war sein Leben. Und trotz aller philosophischen Ersatzdrogen wird von der CSU für Huber immer mehr bleiben als nur ein weiß-blauer Kugelschreiber.

Ein Student sagt: „Schön, dass Sie nach der Politik was Gescheites machen.“

Die Politik war wie eine Sucht – die Philosophie ist sein Methadon

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