Wolfratshausen – Als Moritz Sappl am Montagabend die Unfallstelle auf der A 95 erreicht, wird für ihn das ganze Ausmaß der Geisterfahrt erst deutlich. Auf einer Strecke von 400 Metern ist die Autobahn voller Trümmer, der Horizont voller Blaulicht. Drei Fahrzeuge sind völlig zerstört, eines davon ist ein Taxi. Es ist kein alltäglicher Unfall, den Sappl hier vorfindet. Aber als Einsatzleiter der Beuerberger Feuerwehr hat der Eurasburger Bürgermeister keine andere Wahl, als einen kühlen Kopf zu bewahren. „In so einer Situation hängt alles daran, dass man seine Kräfte richtig einsetzt.“
Das Bild der Verwüstung, das sich den Einsatzkräften am späten Montagabend auf der A 95 bot, ist die Folge einer verheerenden Geisterfahrt, bei der wie durch ein Wunder niemand gestorben ist. Der Unfallverursacher, ein 80-jähriger Taxifahrer aus dem Raum Augsburg, hätte eigentlich schon am Nachmittag wieder zurück in Augsburg sein sollen. Als ihn seine Zentrale per Telefon kontaktierte, konnte er nicht sinnvoll erklären, warum er ohne Fahrgast am Starnberger See unterwegs war. Laut Polizei ist der Mann Diabetiker, möglicherweise war er zu diesem Zeitpunkt schon unterzuckert. Die Zentrale ortete das Taxi per GPS in der Nähe von Münsing im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen und wandte sich schließlich an die Polizei, ob sie den Fahrer ausfindig machen könne.
Eine Streife der Wolfratshauser Polizei wartete an der Autobahnauffahrt zur A 95 bei Wolfratshausen auf das Taxi. Doch offenbar verpasste sie den Mann knapp. Der 80-Jährige fuhr über die falsche Auffahrt auf die Autobahn und als Geisterfahrer in Richtung Garmisch-Partenkirchen. Mit Tempo 150 heizte der Taxler in Richtung Alpen. Ein Zeuge beobachtete das Taxi, das mit derselben Geschwindigkeit wie er selbst unterwegs war – nur eben parallel auf der falschen Fahrbahn.
Währenddessen eilte bereits eine zweite Streife der Weilheimer Verkehrspolizei mit Tempo 230 dem Geisterfahrer entgegen. „Wir hatten die Hoffnung, ihn noch vor der Auffahrt auf die Autobahn zu erwischen“, sagt Mathias Wank von der Verkehrspolizei. Doch so wurden die Polizisten praktisch Augenzeugen, wie der Geisterfahrer zuerst den Wagen einer 51-jährigen Münchnerin streifte und dann frontal mit dem Auto eines 37-jährigen Münchners kollidierte. Die Polizisten leisteten sofort erste Hilfe. Obwohl die drei Fahrzeuge nach den Zusammenstößen nur noch Schrott waren, verletzten sich alle Beteiligten nur mittelschwer. Keiner war in sein Wrack eingeklemmt, alle waren ansprechbar. „Nach 20 Jahren bei der Verkehrspolizei ist es mir ein Rätsel, wie aus dieser Situation alle lebend rausgekommen sind“, sagt Wank.
Ob die Irrfahrt des 80-Jährigen tatsächlich auf Unterzucker zurückzuführen ist, müssen nun die Ermittler klären. Die Symptome reichen in solchen Fällen von Kopfschmerzen bis zu Verwirrtheit mit Seh- und Gleichgewichtsstörungen. Im Gegensatz zum Otto-Normal-Autofahrer müssen Taxifahrer alle fünf Jahre einen Test absolvieren, bei dem unter anderem Sehvermögen, Reaktionsfähigkeit und körperliche Eignung überprüft werden. Nach dem 60. Lebensjahr gibt es die Fahrerlaubnis zudem nur noch nach einer großen ärztlichen Untersuchung, erklärt Frank Kuhle, Vorsitzender beim Landesverband Bayerischer Taxi- und Mietwagenunternehmen. In welchen Intervallen diese Untersuchung von da an stattfindet, legt der Arzt fest. Bei einem Diabetiker könne das durchaus alle zwei Jahre sein. Eine Altersgrenze gibt es aber nicht.
Dass jemand mit 80 Jahren noch Taxi fährt, ist trotzdem eher ungewöhnlich. „Wir haben in der Münchner Taxigenossenschaft etwa 8000 Mitglieder“, sagt Kuhle. „Davon sind nur zwei Prozent über 75 Jahre alt. Und selbst da wissen wir nicht, ob sie überhaupt noch fahren.“ Generell sei es aber nicht unüblich, dass Taxifahrer auch nach dem Rentenalter noch einige Fahrten übernehmen. „Viele machen den Job noch für ein paar Stunden in der Woche – einfach, um weiter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“