Das Leid der Heimkinder dauert bis ins Alter

von Redaktion

Lange wollte niemand von dem Leid hören, das Kinder zwischen 1949 und 1975 in deutschen Heimen erfahren haben. Als erstes Bundesland hat Bayern entschieden, die Maßnahmen zur Entschädigung der Opfer weiterzuführen.

VON BARBARA JUST

Tutzing – „Juhu, endlich“, dachte Brigitte Molnar, als der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ eingerichtet wurde. Nun war auch „ihr“ Thema und damit das erlittene Leid von vielen in solchen Einrichtungen in der Gesellschaft angekommen. Von der Geburt bis zu ihrem fünften Lebensjahr hatte die 66-Jährige mit ihren beiden Schwestern in einem Heim gelebt. Diese hätten bis heute Probleme, darüber zu sprechen. Sie dagegen nutzte die ihr in Höhe von 10 000 Euro gewährte Zahlung, um in einem Sachbuch mit dem Titel „… auch Zaubern ist erlaubt“ einen Beitrag zur „Heilung der Inneren Familie“ zu leisten. Das berichtete sie gestern bei einer Fachtagung zum Abschluss des Projekts in der evangelischen Akademie Tutzing (Kreis Starnberg).

Mehr als 302 Millionen Euro waren von Bund, Ländern und Kirchen zusammengekommen, um daraus jenen Opfern Entschädigung zukommen zu lassen, die einst Furchtbares durchlitten haben. Allein in Bayern, wo der Großteil der Heime in der Trägerschaft der Kirchen lag, wendeten sich in den vergangenen sieben Jahren mehr als 3000 Menschen an die regionale Anlauf- und Beratungsstelle. Über 34,5 Millionen Euro wurden ausgezahlt, wie dieser Tage zum Abschluss von den Verantwortlichen bilanziert wurde.

Das Verfahren habe sich bewährt, findet auch Florian Straus vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung, das die Arbeit wissenschaftlich begleitet hat. Zugleich erinnerte der Fachmann aber auch daran, dass man Leid nicht einfach entschädigen könne – weder mit Geld noch mit Gesprächen. Doch dass das Berichten über das eigene Leid einem eine „gewisse Last“ nehmen könne, bestätigte der 59-jährige Peter Blickle. Mit am meisten geprägt worden sei er durch die „Einsamkeit mit meiner Geschichte“, erklärte er.

Blickle ist ein Vorkämpfer für die betroffenen Heimkinder und sucht bewusst den Weg in Politik und Öffentlichkeit. „Uns ging es nie um Geld“, versichert der Mann, auch wenn es einem damit natürlich kurzfristig besser gehe. Vier Monate war er alt, als seine Mutter mit ihm Zuflucht in einem Frauenhaus suchte. „Wegen Verwahrlosung“ wurde ihr der Sohn entzogen. Bis zum 15. Lebensjahr kannte er nur Heime, vor allem aber dunkle Keller, Karzer oder Besenkammern und dazu Schläge.

Bis heute hält Blickle es nicht lange in geschlossenen Räumen aus. Abhängig zu sein von einem anderen Menschen ist ihm ein Graus. Allein der Gedanke, im Alter womöglich erneut in ein Heim zu müssen, macht ihm Angst. Als er jüngst ins Krankenhaus musste, wollte er sich auch nicht vom gutmeinenden Pfleger den Hintern abputzen lassen – zu stark sind die negativen Erfahrungen, die er damit verbindet. Deshalb rät der Mann, den Blick auf die älter werdende Generation von gequälten Heimkindern zu richten. Die Fürsorge für sie sollte noch nicht zu Ende sein, mahnt er. Nicht nur finanzielle Sorgen dürften manche Opfer später plagen, die aufgrund des Erlittenen nie so recht Fuß im Leben fassen konnten, sondern auch die dunklen Bilder der Vergangenheit. Als einziges Bundesland hat Bayern nun angekündigt, die Anlauf- und Beratungsstelle weitere drei oder vier Jahre aufrechtzuerhalten.

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