Schliersee/Seattle – Nach sieben Monaten und 500 Millionen Kilometern ist die Mars-Sonde InSight kürzlich auf dem roten Planeten gelandet. Die atemberaubenden Bilder lassen Nicolas Kutter träumen, denn den Sternen und speziell der Astrophysik gehört seine große Leidenschaft. Auch Nici hat gerade wieder eine „Mars-Mission“ gestartet – so beschreibt der Gymnasiast aus Schliersee (Kreis Miesbach) seine Reise nach Seattle in den USA. Dort wird er bereits zum dritten Mal wegen seiner Leukämie behandelt. Mit einer noch unerforschten Therapie, Ausgang ungewiss. „Mir geht es wie einem Proton, das auf einen halbdurchlässigen Spiegel trifft“, erzählt Nici. „Ob ich durchkomme, wird auch vom Zufall gesteuert.“
Nicis Reise ins Ungewisse dauert bereits sieben Jahre, unsere Zeitung hat immer wieder über seine dramatische Krankengeschichte berichtet. Sechs Mal schien er den Blutkrebs schon besiegt zu haben, doch jedes Mal kam die heimtückische Krankheit zurück. Zuletzt Anfang April. „Die Ärzte gaben mir noch Stunden, vielleicht Tage, maximal ein paar Wochen.“ Aber Nici lebt nach wie vor, und er kämpft weiter. Weil er an sich selbst glaubt – und vor allem an Gott: „Mag sein, dass ich ein besonderes Durchhaltevermögen habe, das ist eine Stärke. Aber ganz viel Kraft schöpfe ich aus meinem Glauben. Gott zeigt mir den Weg.“
Und dieser könnte steiniger kaum sein. Nici musste zig Chemotherapien durchstehen und Ganzkörperbestrahlungen, extremes Fieber und Hirnschwellungen, er konnte weder sprechen noch laufen. Nieren und Augen verweigerten vorübergehend ihren Dienst. Die Krankheit hat große Teile seiner Bauchspeicheldrüse zerstört, so dass sich Nici Insulin spritzen muss. Kein Grund zum Jammern für den tapferen jungen Mann: „Das bringt nichts. Ich schaue nach vorne.“ Sein Mut ist genauso außergewöhnlich wie der Krankheitsverlauf. Ein medizinisches Wunder allein dürfte kaum ausgereicht haben, um ihn am Leben zu halten – flankiert von etlichen aufopferungsvollen Behandlungen in der Haunerschen Kinderklinik und zwei innovativen, monatelangen Therapien in Seattle. Dort bekam Nici so genannte „CAR-T-Zellen“ verabreicht. Das sind – vereinfacht erklärt – Zellen aus seinem eigenen Blut, die im Labor genetisch so umprogrammiert werden, dass sie Krebszellen erkennen und vernichten können.
Diese revolutionäre Methode schlug bei Nici jeweils zunächst an. Die Krebszellen verschwanden vorübergehend aus seinem Blut, doch leider nur für kurze Zeit bis zum nächsten Rückfall. Nun ziehen die amerikanischen Spezialisten vom Seattle Children’s Hospital ihren allerletzten Trumpf, sie wollen Nici mit der neuesten Generation von Car-T-Zellen behandeln. Mit dem weiterentwickelten Verfahren haben die Mediziner noch keinerlei Erfahrungen. Nici wird der erste Patient überhaupt sein, der an einer entsprechenden klinischen Studie teilnimmt. Die Behandlungskosten von mehreren hunderttausend Dollar übernimmt die Krankenkasse, weil sie darin trotz aller Unwägbarkeiten eine Überlebenschance für ihren leidgeprüften Patienten sieht.
Nici weiß, wie unüberschaubar die Risiken sind. „Es gibt zwei Wege, wie ich sterben kann: entweder durch die Leukämie oder durch die Nebenwirkungen der Behandlung. Aber es gibt auch einen dritten Weg: Ich kann auch wieder gesund werden. Mein Weg muss muss also nicht zwingend in einer Sackgasse enden. Ich habe jedenfalls keine Angst vor der Behandlung“, sagt der 19-Jährige.
Diese Woche ist Nici bereits in Seattle operiert worden – zur Vorbereitung auf die Therapie. Die Ärzte mussten den Hickman-Katheter neu in seinem Körper verankern – eine Art Schlauchsystem, das unter anderem die langfristige Abgabe von Medikamenten ermöglicht. „Nici hat den Eingriff gut überstanden“, berichtet seine Mama Solveig Kutter. „Die Studienunterlagen sind unterschrieben, die Therapie wird jetzt vorbereitet.“ Wenn alles gut läuft, wird sie inklusive der Nachbehandlungen wieder mehrere Wochen oder sogar Monate dauern. Eine quälend lange Zeit – gemessen an den Torturen. Aber auch eine überschaubare Zeit, wenn man bedenkt, wie lange Nici schon durch die Hölle gegangen ist. „Ich bin bereit“, sagt er entschlossen. „Ich will leben!“