„Auf ein Wiedersehen hoffend“

von Redaktion

1918 – DIE FRIEDENSWEIHNACHT

VON DIRK WALTER

Erharting – Wie muss man sich das wohl vorstellen? Der Sohn des Bauern war am Ersten Advent 1914 zum Kriegsdienst eingerückt. Westfront, Verwundung (schwerer Gehörschaden), die Hölle von Verdun, Gaskrieg, dann wieder verwundet – all das überlebte Michael Oberniedermaier. Gegen Ende des Krieges hörte man nichts mehr von ihm im Dorf Erharting bei Mühldorf. Manch einer dachte wohl, der „Mittermüller Michi“ sei tot. Und dann das: Am Heiligabend 1918 öffnet sich die Tür – und der Bua ist wieder daheim. Ein Weihnachtswunder anno 1918, das sich wirklich so zugetragen hat.

1,4 Millionen Soldaten aus Bayern waren im Verlauf der vier Jahre an den Fronten eingesetzt. Knapp 200 000 starben, 1,2 Millionen überlebten. Manche Truppenverbände kehrten nach dem Krieg in Art von Siegesparaden zurück nach München, ehe die Soldaten ihre Entlassungspapiere erhielten und nach Hause gingen. Andere Soldaten bekamen ihre Papiere schon an der vormaligen Front – und schlugen sich auf eigene Faust nach Zuhause durch. So einer war der Michael Oberniedermaier. Aufgeschrieben hat die Geschichte der Mühldorfer Heimatpfleger Leonhard Biermaier. Er hat den „Mittermüller Vater“ noch selbst gekannt und auch mit Verwandten gesprochen, darunter auch die Tochter, die heute betagt in einem Seniorenwohnheim lebt. Den Hof im Erhartinger Weiler Maxing gibt es noch. Dort zeugen alte Fotos, Papiere und ein Kreuz, das Michael Oberniedermaier aus Granatensplittern fertigte, von der Geschichte des Weltkriegs-Soldaten. Darunter ist auch eine Feldpostkarte, die der Soldat im April 1915 an die Nachbarsfamilie schrieb: „Auf ein Wiedersehen hoffend“, heißt es darauf. Das Hoffen war nicht umsonst.

Kurz nach dem Krieg war es eine karge Zeit, in der selbst die Preise für Christbäume reglementiert wurden (15 Pfennige für je zehn Zentimeter). Die Anfangseuphorie der Revolution war verflogen. Manch einer, der den Sturz der Monarchie eher lakonisch betrachtet hatte, blickte jetzt missmutig in die Zukunft. „Trüb“, „dunkel“, „bitter“ – das sind Vokabeln, die in dieser Zeit oft fallen. „Solch triste Weihnachten haben wir noch nie erlebt“, schrieb der Münchner Lehrer Josef Hofmiller, einer der hellsten Köpfe unter den damaligen Schriftstellern, in sein Tagebuch. Er gab damit wohl eine allgemeine Stimmungslage im Münchner Bürgertum wieder, das dem verlorenen Krieg, dem abgesetzten König und dem geflohenen Kaiser hinterher trauerte, während viele den Errungenschaften der Revolution – Acht-Stunden-Tag, Wahlrecht auch für Frauen, Demokratie – Desinteresse bis Verachtung entgegenbrachten. Manchen mochte es angesichts zunehmender Spannungen – Straßenkämpfe in Berlin an Weihnachten – schaudern, vor dem, was da noch kommen mochte.

Von all dem wird Unteroffizier Michael Oberniedermaier wenig geahnt haben, als er am 9. Dezember 1918 in Frankreich seinen Entlassungs-Schein erhielt. „Entlassen nach Maxing“, heißt es handschriftlich auf dem vergilbten Papier. Waffenrock, eine Tuchhose, ein Paar Schuhe und einen Mantel nebst 65 Mark Entlassungsgeld erhielt er dazu, amtlich beglaubigt vom Zahlmeister des Fussartillerie-Bataillons Nr. 24, das auf dem Stempel noch den Zusatz „K.B. (für Königlich-Bayrisch) hatte – obwohl in der Heimat schon die Revolution ausgebrochen war. Dann machte sich Oberniedermaier auf den Heimweg. „Den weiten Weg aus Frankreich legte er mit einigen Kameraden überwiegend zu Fuß bis München zurück“, berichtet Chronist Biermaier. Es ist wenig bekannt, wie die Ex-Soldaten durchs Land zogen. Es gibt keine Fotos, keine Tagebucheinträge. Nur Erzählungen. Zum Beispiel, dass Kinder am Wegesrand für die Soldaten sangen. Oder dass der Soldat unterwegs seine bayerisch-königlichen Abzeichen wegschmiss. Es war ja jetzt Demokratie.

In München nahm Oberniedermeier den Zug nach Mühldorf. Die letzten fünf Kilometer lief er zu Fuß. Spätestens nach der Christmette in Erharting hatte sich die Rückkehr des Soldaten wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Ob er schon die Messe besuchte, wissen wir nicht. Sicher aber ist, dass ihn das halbe Dorf feierte. Dass es nach der Mette auf dem Hof neben der obligatorischen Suppe auch Würste von einer mutmaßlich schwarz geschlachteten Sau gab, war eh klar. Triste Weihnachten also, wie der Schriftsteller Hofmiller schrieb? Nein, so war es nicht überall. Das glatte Gegenteil war der Fall. Diese Friedensweihnacht hat in Maxing nie jemand vergessen.

Michael Oberniedermaier wurde dann Landwirt und Hofnachfolger. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, setzten ihn die Amerikaner im Juni 1945 als Bürgermeister von Erharting ein. Das war er bis 1966. 13 Jahre später ist der „Mittermüller Vater“ im Alter von 86 Jahren gestorben.

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