Ebersberg – Als sich die S-Bahn vom Typ ET 420 553-0 am Silvestertag vor 30 Jahren um 7.58 Uhr selbstständig machte, dürfte ihr Lokführer gerade seine Hosentür geschlossen haben. Der 45-Jährige hatte an der Endstation im Ebersberger Bahnhof eine kurze Toilettenpause eingelegt, nachdem alle Fahrgäste den Zug verlassen hatten. Doch als er zurück zum Gleis kam, war sein Zug verschwunden. Der Lokführer hatte vergessen, die Bremsen richtig festzustellen.
Als er das Malheur bemerkte, rollte seine S-Bahn schon langsam, aber zielstrebig auf der abschüssigen Strecke in Richtung Wasserburg. Wie unsere Zeitung damals berichtete, verständigte der Mann noch über das Streckentelefon den Fahrdienstleiter in Grafing mit den Worten „Mein Zug ist weg“, ehe er im Laufschritt versuchte, die davongefahrene S-Bahn einzuholen. Doch als er eine Alarmsirene hörte, geriet er in Panik und versteckte sich in einem Waldstück.
Die führerlose S-Bahn nahm unterdessen Fahrt auf. Mit bis zu 60 Stundenkilometern passierte sie rund 20 schrankenlose Bahnübergänge und mehrere Ortschaften. Erst etwa 20 Kilometer weiter endete die Geisterfahrt im Landkreis Rosenheim. Im Wasserburger Bahnhof prallte die S-Bahn gegen einen Prellbock, riss diesen aus der Verankerung und schob ihn 35 Meter vor sich her. Dabei entgleiste der Zug und blieb an einer Straßenböschung stehen.
Es entstand ein Sachschaden von 30 000 Mark am Zug und von 10 000 Mark an den Gleisanlagen. Dass nicht mehr passierte, war eine Kombination aus Glück und dem geistesgegenwärtigen Handeln des Wasserburger Fahrdienstleiters. Die meisten Schranken an den Übergängen schlossen automatisch, zudem befand sich auf der Strecke zu dem Zeitpunkt kein anderer Zug. Eine Schranke ohne automatisches Zugauslösesystem schloss der Fahrdienstleiter gerade noch rechtzeitig. Außerdem legte er die Weichen so, dass die S-Bahn in Wasserburg auf ein Nebengleis fuhr. Die auf die Gleise gelegten Hemmschuhe nutzten allerdings nichts, der Zug fegte sie beiseite, erst in der Böschung kam die Bahn zum Stehen. Auf dem entgleisten Wagen prangte noch der Werbeslogan einer großen Münchner Bank: „Wo immer der Zug hält: Wir lassen uns etwas für Sie einfallen.“
Erst nach Einbruch der Dunkelheit tauchte schließlich auch der schwer schockierte Lokführer wieder auf. Die Polizei hatte zwischenzeitlich nach ihm gefahndet. In der Neujahrsnacht verständigte er eine Angehörige, die ihn nach Hause brachte. Unter Weinkrämpfen schilderte er den Beamten, dass er sich an nichts mehr erinnern könne, nachdem er sich im Wald versteckt habe.
Einige S-Bahnen vom Typ ET 420 werden noch heute zur Überbrückung eingesetzt, bis die aktuelle S-Bahnflotte nach und nach ihr neues Design erhält. Doch selbst diese alten Züge seien technisch mit dem Geisterzug von 1989 nicht mehr zu vergleichen, betont ein Bahn-Sprecher. Auf allen S-Bahnstrecken gibt es mittlerweile eine elektromagnetische Zugsicherung. Heißt: Wenn ein Zug ein rotes Signal überfährt oder zu schnell unterwegs ist, bekommt er eine Zwangsbremsung verpasst. Der zuständige Fahrdienstleiter sieht heute sofort, wenn eine S-Bahn nicht da ist, wo sie sein sollte und kann die Signale auf Rot stellen. Die Züge der aktuellen Baureihe ET 423 muss der Lokführer zudem mit mehreren Schritten auf „abfahrbereit“ stellen – vorher bewegt sich nichts.