Tel Aviv/Indersdorf – Für Zalman Ackerman ist es ein aufregender Tag. Nach 70 Jahren trifft er die Menschen wieder, denen er in der Nachkriegszeit viel Kraft und Halt gegeben hat. Obwohl er selbst auch das Schlimmste erlebt hatte. Sein Vater und seine Mutter wurden im Holocaust ermordet. Ackerman, damals 20 Jahre alt, kam als Jugendleiter in das Kinderzentrum im Kloster Indersdorf im Landkreis Dachau. Seine Geschichte und die vieler anderer Kinder, die den Holocaust überlebt haben, stehen an diesem Abend im Mittelpunkt.
Der Indersdorfer Heimatverein eröffnet in Israel eine Fotoausstellung, die zeigt, wie die Kinder und Jugendlichen nach dem Dritten Reich zurück ins Leben gefunden haben. Der 93-jährige Zalman Ackerman kommt zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter zur Ausstellungseröffnung in die Universität von Tel Aviv. Mehr als eine Stunde vor Beginn ist er da. Er trifft Masha Goren wieder – das erste Mal seit 70 Jahren. Sie fassen sich an den Armen, reden voller Freude auf Hebräisch miteinander. Später erzählt Ackerman im Eingangsbereich der Bibliothek seine Geschichte.
Und er dankt Anna Andlauer. Ohne die Zeitgeschichtsforscherin wäre die Geschichte der Kinderzentren im Kloster Indersdorf womöglich in Vergessenheit geraten. Sie hat es geschafft, dass die Lebensgeschichten von Zalman Ackerman und den anderen Überlebenden nun auch in Israel wahrgenommen werden. Andlauer wurde zur Ausstellungseröffnung begleitet von einer Delegation des Landkreises Dachau, unter anderem von Landrat Stefan Löwl, Kreisräten und interessierten Bürgern. „HaChaim SheAchare“ lautet der hebräische Titel der Ausstellung – „Das Leben danach“. Die Bilder dokumentieren, wie die Kinder nach dem Holocaust aufgefangen wurden.
Anna Andlauer erklärt anhand der Bilder, wie wichtig für die Kinder „ein warmes Bad oder eine Zahnbürste“ waren, dass sie endlich gute Schuhe und passende Kleidung bekamen. „Und natürlich essen, essen, essen. Die Kinder waren aber auch psychisch ausgehungert.“
Die UN-Pioniere um die Pädagogin Greta Fischer hörten den Kindern zu. „Sie halfen ihnen, mit ihren verstörenden Erfahrungen irgendwie umzugehen und sich behutsam in ein neues Leben vorzutasten“, erklärt Andlauer. Im Kloster Indersdorf konnten die jungen Überlebenden wieder Teenager sein.
Einer von ihnen war Avremale Litman. Im Begleitfilm zur Ausstellung beschreibt er sich und seine Freunde als „wild“. Als Jungen streiften sie durch Indersdorf, auf der Suche nach einem Deutschen, den sie verprügeln konnten. Schließlich waren Deutsche für den Holocaust verantwortlich. „Wir fragten nicht danach, ob das ein Nazi oder ein Nicht-Nazi war.“ Heute tut ihm das leid, sagte er. Der 81-Jährige gehörte der Eitan-Kibbuzgruppe vor der Indersdorfer Klostergaststätte von 1946/47 an. Die Jugendlichen wurden an zionistisch-sozialistische Zukunftspläne herangeführt, bevor sie sich mit kaum seetüchtigen Schiffen auf den Weg nach Erez Israel machten. Avremale Litman war an Bord des Flüchtlingsschiffes „Exodus“, das kurz vor dem Hafen von Haifa von britischen Schiffen gerammt wurde – die Mandatsmacht Großbritannien war fest entschlossen, die Flüchtlinge aufzuhalten. Sie wurden zurücktransportiert nach Frankreich. Auf Umwegen gelangte Avremale Litman schließlich nach Erez Israel. Zusammen mit 37 weiteren Mitgliedern der Eitan-Kibbuzgruppe gründete er 1949 den Kibbuz Netiv HaLamed-Hey bei Jerusalem.
Im Kloster Indersdorf fanden die Kinder vor allem menschliche Beziehungen, Freunde, Zuneigung und Liebe, sagt Nahum Bogner in einem Film. Er ist überzeugt davon, dass Zalman Ackerman ihn und die anderen Jugendlichen gerettet hat. Mit 18 kämpfte sich Ackerman durch die Qualen des Warschauer Ghettos, überlebte verschiedene Konzentrationslager und wurde schließlich auf einem Todesmarsch befreit. Mit 20 Jahren war er „allein gelassen“, wie er bei der Ausstellungseröffnung berichtet. Von der Dror-Kibbuzbewegung wurde er schließlich zum Leiter einer Gruppe ausgebildet. Er kümmerte sich um die Kinder, die nur wenig jünger waren als er und die Shoa überlebt hatten. „Lebensfroh, humorvoll, verantwortungsbewusst“ sei Ackerman gewesen, erzählt Bogner. „Obwohl er selbst so viel durchgemacht hat.“
Zalman Ackerman ist Anna Andlauer sehr dankbar. Er schenkt ihr ein von seiner Tochter gemaltes Bild vom Kloster Indersdorf. Von der Überlebenden Ella Braun bekommt Anna Andlauer eine selbst gemachte Kette. Sie ist ständig umringt, umarmt Menschen, bekommt Blumen. „Ich bin völlig überwältigt von der Dankbarkeit und Liebe“, sagt sie. „Ich wusste nicht, dass sie das so wertschätzen.“ Für Andlauer ein Beweis, wie wichtig es für die Überlebenden ist, wahrgenommen zu werden und über ihre Lebensgeschichten zu sprechen. Am meisten freut sich Andlauer aber über etwas anderes: Die Überlebenden nennen sich selbst so, wie sie es nie gewagt hätte, sie zu betiteln: die Indersdorfer Kinder.