Der Mörder kam von hinten: Am Vormittag des 21. Februar 1919 wartete der Offizier Anton Graf Arco-Valley, 22, mit einem entsicherten Revolver vor der Bayerischen Vereinsbank an der Promenadestraße (heute Kardinal-Faulhaber-Straße). Kurz vor 10 Uhr erschien auf der Straße Bayerns Ministerpräsident Kurt Eisner, 51, links von ihm sein Sekretär Felix Fechenbach, rechts Benno Merkle vom Ministerium des Äußeren. Eisner hatte eine Dienstwohnung im Bayerischen Außenministerium, nun wollte er in den kaum 200 Meter entfernten Landtag an der Prannerstraße, um dort seinen Rücktritt zu verkünden.
Dazu kam es nicht mehr. „Als wir in der Promenadestraße einige wenige Schritte gegen den Landtag zu gegangen waren“, so schilderte es Fechenbach, „hörte ich hinter uns schnelle leise Tritte. Ich wandte mich sofort um und sah unmittelbar hinter Eisner einen Mann in Zivil, der auch sofort aus nächster Nähe auf Eisner 2 Schüsse aus einem Revolver gab.“
Eisner stürzte zu Boden, er zuckte noch einmal, dann starb er. Die Autopsie ergab: „Der Tod ist eingetreten infolge zweier von rückwärts den Kopf treffender Schussverletzungen. Die eine hat ausgedehnte Zerstörungen des Gehirns und schwere Beschädigungen der Schädelkapsel hervorgerufen. Die andere hat bedingt, dass außerordentlich reichlich Blut in die Lungen eingeatmet wurde.“
Der Mord an Eisner war ein Fanal, die Ouvertüre zu einem tränenreichen Finale der Revolution. Bis Ende Februar war sie in Bayern relativ friedlich abgelaufen. Jetzt aber eskalierte die Situation fast täglich mit Schießereien und Putschgerüchten. Im März floh der gewählte Landtag nach Bamberg, im April wurde erst die eine, dann die zweite nun rein kommunistische Räterepublik ausgerufen, nach deren blutiger Niederschlagung durch „weiße“ Truppen Hunderte, wenn nicht über tausend Menschen tot in den Straßen lagen.
Arcos Bluttat blieb an diesem 21. Februar nicht der einzige Mord. Kurz nach elf Uhr, als der Mord im Landtag bekannt gegeben wurde, hielt der bayerische Innenminister Erhard Auer (SPD) einen Nachruf auf Eisner. Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, da stürmte der ehemalige Metzger und Matrose Alois Lindner, ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrates, in den Sitzungssaal und auf Auer zu. Er beschimpfte ihn als „Lump“ und „Schuft“ und schoss Auer, den er für den Anstifter des Mordes an Eisner hielt, aus nächster Nähe nieder. Als sich ihm der Major Jahreiß in den Weg stellte, wurde auch er mit dem Revolver niedergestreckt. Von der Tribüne des Landtags feuerte zeitgleich ein nie ermittelter Schütze auf die Abgeordneten, die sich in Panik duckten. Kugeln trafen den Abgeordneten der Bayerischen Volkspartei, Heinrich Osel.
Die Bilanz dieser dramatischen Stunden: drei Tote. Eisner, Jahreiß und Osel; sowie zwei Schwerverletzte: Auer – und der nach dem Attentat gleichfalls niedergeschossene Eisner-Attentäter Arco. Beider Leben rettete der bekannte Chirurg Ferdinand von Sauerbruch mit zwei Notoperationen.
Während sich Arco und Auer in den folgenden Monaten langsam erholten, liefen die Ermittlungen an. Beide Fälle zog der Staatsanwalt Matthäus Hahn an sich. Die Sachlage schien ja klar: Der Attentäter Lindner, der zunächst fliehen konnte, wurde bald gefasst – und später zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Fall Arco deutete alles auf einen Einzeltäter hin. Bei einer Durchsuchung des Pensionszimmers in der Prinzregentenstraße, in dem Arco als Dauergast logiert hatte, fanden Ermittler mehrere Schriftstücke – eilig hingekritzelte Notizen, abgefasst von Arco erst in der Nacht vor dem Mord.
Eisner, so hieß es dort unter anderem, „1.) strebt verdeckt nach Anarchie“ 2.) Er ist Bolschewist 3.) ist Jude 4.) ist kein Deutscher 5.) fühlt nicht Deutsch 6.) untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen 7.) ist ein Landesverräter.“
Mit anderen Worten: Arco hasste Eisner mit jeder Pore. Erklärt das allerdings allein den kaltblütigen Mord? Schon bei seinen Ermittlungen war der Staatsanwalt auf einen dubiosen Zeugen gestoßen, der zu Protokoll gab, unter monarchietreuen Soldaten sei der Mörder ausgelost worden. „Das 2. Los traf den Arco, der seine Pflicht erfüllte.“ Eine Offiziersverschwörung also?
Der linke Autor Friedrich Hitzer hatte das schon vor über 30 Jahren zu beweisen versucht. Er scheiterte. Hitzer wies daraufhin, dass die beiden Wachleute unmittelbar vor dem Mord „entgegen der sonstigen Übung“, wie es in den Ermittlungsakten heißt, nicht hinter, sondern vor Eisner gegangen waren. Gab es hier eine Absprache der Wachen, Eisner ungeschützt zu lassen? Der eine Wachmann, Wilhelm Klebsch, ist eigentümlicherweise nie befragt worden; vom zweiten Mann wurde nicht einmal der Name ermittelt.
Die Buchautoren Stefan Fröhling und Markus Huck haben nun einen neuen Hinweis erhalten. Sie schreiben im Auftrag der drei Arco-Töchter an einer Biografie des Mörders und bekamen über Umwege den Hinweis auf einen Juristen, der heute noch in München lebt. Dieser hatte in den 1960er-Jahren einen Adligen namens Dumoulin-Eckart als Nachbarn. Als das Gespräch eines Tages auf Arco kam, dessen Tochter Ludmila der Jurist zufällig kannte, erklärte Dumoulin-Eckart freimütig, er sei 1918/19 „Teilnehmer des Treffens adeliger Weltkriegsoffiziere im Bayerischen Automobilklub in der Galeriestraße“ gewesen. Dabei sei Arco im Losverfahren als Mörder ausgewählt worden.
Ähnliche Gerüchte hat der Historiker Thomas Weber von einer Verwandten des Weltkriegsoffiziers Michael von Godin erhalten. Das Problem: Godin und Graf Dumoulin – er war später ein hochrangiger NS-Funktionär – tauchen in den zeitgenössischen Ermittlungsakten gar nicht auf.
Nun, Historiker sind keine Staatsanwälte, schon gar nicht können sie 100 Jahre später ermitteln. Solange kein schriftlicher Beweis, etwa ein Geständnis, auftaucht, wird sich die Verschwörungsthese nicht erhärten lassen.
Wesentlich klarer als etwaige Hintermänner des Anschlags treten die Motive für das letztlich milde Urteil gegen Arco zutage. Er wurde am 16. Januar 1920 vom Volksgericht München zum Tode verurteilt, wobei schon bei der Urteilsverkündung allen klar war, dass der Täter begnadigt werden würde. So geschah es auch nur einen Tag später: Der bayerische Justizminister Ernst Müller-Meiningen, ein Liberaler, wandelte das Urteil in lebenslange Festungshaft um. Wohlgemerkt: Festung – nicht etwa Zuchthaus. Festungshaft war in der Weimarer Republik eine Art Ehrenarrest mit vielen Extras bei Besuchserlaubnissen, Geschenken oder Verpflegung.
Interessant ist, wer Arco verurteilte: Der Vorsitzende Richter am Volksgericht, Georg Neidhardt, war ausgerechnet jener Richter, der später, 1924, den Putschisten Adolf Hitler mit einem Urteil nahe an der Rechtsbeugung zu äußerst milden fünf Jahren Festungshaft verurteilte – wie die Geschichte weiterging, ist bekannt. Schon sein Arco-Urteil enthält Sätze voller Verständnis für den Täter, die in der deutschen Rechtsgeschichte einmalig sind, wie es der Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder einst formuliert hat. Neidhardt verhängte zwar formell die Todesstrafe, erkannte dem Mörder aber ausdrücklich die bürgerlichen Ehrenrechte nicht ab. Im Wortlaut:
„Von einer Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte konnte natürlich keine Rede sein, weil die Handlungsweise des jungen, politisch unmündigen Mannes nicht niedriger Gesinnung, sondern der glühenden Liebe zu seinem Volke und Vaterlande entsprang und ein Ausfluß seines Draufgängertums und der in weiten Volkskreisen herrschenden Empörung gegen Eisner war.“
Nicht viel weniger Mitgefühl zeigte der ermittelnde Staatsanwalt, der sich für eine Begnadigung einsetzte. „Ich bitte zu beachten, dass an Arco-Valley kein Makel von Unehrenhaftigkeit klebt“, schrieb er – da aber auch die Umwandlung der Todesstrafe in eine gewöhnliche Zuchthausstrafe Arco „den Stempel der Ehrlosigkeit aufdrücken würde“, müsse der Täter nicht ins Gefängnis, sondern in Festungshaft kommen. Gesagt, getan.
Am 28. Januar 1920 wurde Arco in die Festungshaftanstalt Landsberg eingeliefert. Er wurde als Festungshäftling Nummer 1 registriert und war die meiste Zeit der einzige Gefangene. Leider ist seine Landsberger Gefangenenpersonalakte verschwunden – eine von vielen Ungereimtheiten dieses Falles. Die Autoren Fröhling und Huck hatten Einblick in Briefe, die Arco an seine Familie und seinen ehemaligen Passauer Hauslehrer Anton Glas in der Haftzeit schrieb. Daraus gehen die Besucher hervor, die er während der Haftzeit empfing. Die Chirurgen Sauerbruch und Max Lebsche, die Arco wahrscheinlich bewunderten, zählten ebenso dazu wie eine Anzahl früherer Offizierskameraden – etwa die Mitverschwörer? Einer der Besucher, Hans von Pranckh, hatte schon 1920 unter dem bezeichnenden Untertitel „Ich habs gewagt“ eine Schrift zum Arco-Prozess herausgegeben.
Ein anderer Landsberger Festungsgefangener wird in den Briefen hingegen nicht erwähnt: Hitler, der nach seinem gescheiterten Putsch am 1. April 1924 in Landsberg eingeliefert worden war. Die Haftzeit von Arco und Hitler überschnitt sich ohnehin kaum. Angeblich ist Arco zu diesem Zeitpunkt in die Krankenstation eingeliefert worden. Wenig später, am 13. April 1924, wurde er auch schon „auf Strafunterbrechung“ entlassen.
Bereute Arco, ein streng gläubiger Katholik, seinen Anschlag? Dafür gibt es in der Tat neue Hinweise. Bereits in einem Brief vom 21. Mai 1919 an seinen früheren Hauslehrer Glas, den die Autoren Fröhling und Huck gefunden haben, findet sich immerhin der Halbsatz: „… und an meine Schuld denk ich jetzt erst!“ Mehr noch. Fest steht, dass Arco an die Eisner-Witwe Elise („Else“) Geld zahlte. „Zu Weihnachten 1920 erhielt Frau Eisner durch den Rechtsanwalt Nußbaum“ – übrigens ein jüdischer Anwalt – „in München den Betrag von 60 000 M ausbezahlt“, heißt es in einem Aktenvermerk, der in der Forschung bisher nicht bekannt war, aber unserer Zeitung vorliegt. Die Witwe hatte zuvor eine Schadenersatzklage eingereicht – ob es zum Prozess kam oder sich die Streitparteien vorher einigten, ist bisher unbekannt.
Als Arco am 1. Oktober 1927 durch Reichspräsident Paul von Hindenburg auch offiziell begnadigt wurde, hatte er im zivilen Leben schon wieder Tritt gefasst. Weil er wohl schon während des Ersten Weltkriegs gerne zu den Fliegern gegangen wäre, heuerte er bei der damals kleinen Süddeutschen Lufthansa an, wo er aber aus unbekannten Gründen nur eineinhalb Jahre blieb. Danach versuchte er sich im Immobiliengeschäft; dass er wirtschaftlichen Erfolg nötig hatte, wird man angesichts seiner vermögenden Familie bezweifeln dürfen.
In der NS-Zeit wurde er von den neuen Machthabern nicht etwa als Held gefeiert, sondern wegen seiner konsequent monarchistischen und separatistischen Haltung beargwöhnt und auch verfolgt. Schon 1933 war er in Haft, 1944 nach dem gescheiterten Staufenberg-Attentat auf Hitler erneut. Er kam nach Schörgenhub bei Linz, einem sogenannten Arbeitserziehungslager mit Tausenden Häftlingen, die der Gestapo unterstanden. Wie es speziell Arco in der Haftzeit erging, ist bisher nicht bekannt. Die Autoren Fröhling und Huck haben herausgefunden, dass es Arco offenbar gelang, zu einer Operation aus dem Lager weg nach München verlegt zu werden.
Die Befreiung von der NS-Diktatur konnte er nicht lange genießen. Bei einer Fahrt mit seinem Holzvergaser-Pkw vom Familiensitz Sassau am Chiemsee zum Stamm-Schloss St. Martin im Innkreis (Oberösterreich) kollidierte er am 29. Juni 1945 nahe Salzburg mit einer amerikanischen Militärkolonne. Zwei Mitreisende überlebten den Unfall.
Arco indes erlitt eine Quetschung am Brustkorb. Er war sofort tot.
Literaturtipp: