Eine haarige Angelegenheit

von Redaktion

Seit gestern gilt in Oberammergau der Haar- und Barterlass. Alle Mitwirkenden der Passionsspiele sind aufgefordert, Haare und Bärte wachsen zu lassen. Über ein Dorf, in dessen Gesichtern es jetzt eineinhalb Jahre lang wuchert.

VON DOMINIK GÖTTLER

Oberammergau – Ordentlich Kleister und ein paar kräftige Striche mit der Tapezierrolle, dann klebt das Plakat an der Stellwand vor dem Passionsspielhaus in Oberammergau. Das Plakat, das alle Mitwirkenden an den Passionsspielen 2020 aufruft, Haare und Bärte wachsen zu lassen. „Jetzt hängt’s“, ruft Passionsspielleiter Christian Stückl über den Vorplatz. „Hoit’s eich dro!“, fordert er seine Darsteller auf – und kann sich ein diebisches Grinsen nicht verkneifen. Denn der Spielleiter ist als einer der wenigen vom Friseurverbot ausgenommen.

Der Haar- und Barterlass von Oberammergau ist so etwas wie der inoffizielle Startschuss für die Passionsspiele, die alle zehn Jahre in der 5000-Einwohner-Gemeinde in den Ammertaler Alpen den Ausnahmezustand auslösen. Im Mai 2020 ist Premiere. Doch schon jetzt lassen alle „Ogauer“, die in irgendeiner Form auf der Bühne stehen, wachsen und wuchern. Mit rund 2500 Laiendarstellern macht immerhin die halbe Gemeinde mit. Und bei den Männern dürfte die Gesichtsbehaarung gegen Jahresende mitunter beängstigende Ausmaße annehmen.

Als Stückl den Erlass in die Ammergauer Alpen hinausruft, steht Rochus Rückel auf dem Vorplatz und zupft an seinem Schnauzer. Der 22-Jährige ist einer von zwei Jesus-Darstellern im nächsten Jahr. Und er ist, wie so viele aus seinem Heimatdorf, am Freitag noch mal schnell zum Friseur gefetzt, zur letzten Scherung vor der Bescherung. Den Schnauzer hat er stehen lassen – „der braucht länger, bis er wiederkommt“. Aber sonst macht sich der Student für Luft- und Raumfahrttechnik keine Sorgen um seine Haarpracht. Von seinen dunklen Locken hat er sich nur die Spitzen abzwacken lassen. „Wenn es etwas wuchert, dann ist das doch nur ein Merkmal, wo man herkommt.“ Wildwuchs im Gesicht? Die Oberammergauer tragen es mit Stolz.

Bricht deshalb bei der Friseurszunft im Dorf nun die Saure-Gurken-Zeit an? „Das war früher mal“, sagt Friseurmeisterin Katharina Daisenberger vom Salon Kretschmar, die Rochus Rückel ein letztes Mal die Locken gestutzt hat. „Färben und Strähnen sind ja trotz Haarerlass noch erlaubt. Und das nutzen auch viele.“ Bei Spezialfällen geht’s zudem nicht ganz genau. Bei einem Darsteller zum Beispiel, der im Sommer seine Abschlussprüfung bei einer Bank ablegt. „Da bringen wir vorher noch mal Ordnung rein“, sagt Daisenberger und lacht. In einem Sonderfall will außerdem Christian Stückl selbst intervenieren. Denn Judas-Darsteller Martin Schuster ist bei der Bundeswehr – und hat bislang noch keine Erlaubnis für eine wallende Haarpracht. „Da werden wir kämpfen für eine Lex Oberammergau“, sagt Stückl und hebt den Zeigefinger.

Vor seinem Arbeitgeber braucht sich Walter Rutz nicht zu rechtfertigen, denn der 55-Jährige ist Werkleiter bei den Passionsspielen. Wie es sich anfühlt, wenn die Haare immer länger werden, kennt er gut, schließlich ist er schon seit den 70er-Jahren mit dabei. „Beim Bart stört es mich nicht, aber bei den Haaren wird es schon mühsam“, sagt er. „Die werden ja auch immer dünner.“ Aber egal ob dünnes oder dickes Haar, blond oder dunkel, lockig oder glatt – wachsen lassen es alle. Außer sie spielen einen Römer.

Auch wenn niemand so genau weiß, wann der Wucher-Wahnsinn im Ammertal seinen Anfang genommen hat, so ist doch schon in englischen Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert von dem bärtigen Bergvolk die Rede. Davon wollte sich auch die Münchner Edelfeder Lion Feuchtwanger ein Bild machen, als er 1910 die Passion besuchte. Danach schimpfte er zwar in seiner ihm eigenen Schärfe über die „stumpfen“ Bergbewohner, erkannte aber immerhin an, dass bei der Aufführung keine Perücke das Auge beleidige, wie Stückl zitiert.

Eine Perücke kommt natürlich auch für Anton Preisinger junior nicht infrage. Der 20-Jährige wird nächstes Jahr als Johannes auf der Bühne stehen. Für ihn ist es die erste große Rolle. Im Gegensatz zu vielen anderen hat er sich die Wangen vor dem Erlass aber nicht rasiert. „Bei mir gibt’s nicht so viel“, sagt er, lächelt und fährt sich mit der Hand über den leichten Ansatz. Da muss man haushalten. Auf den ein oder anderen schrägen Spruch bei der Arbeit stellt sich der Hotelfachschüler zwar schon ein. Aber was juckt ihn das, angesichts der Tradition, die die Passion in seiner Familie hat. Der Vater spielt den Pilatus, wie schon der Opa zuvor. Und der Uropa war schon Jesus und Spielleiter. „Ein Traum, dass ich jetzt auch in der Reihe stehe.“ In der Reihe der Haarigen.

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