Das Versagen der Justiz

von Redaktion

ZEITGESCHICHTE: Jürgen Hanreich verurteilte 2001 den NS-Täter Malloth – zu spät, wie er heute sagt

VON ANGELA WALSER*

München – 18 Jahre ist es her, dass in der Haft-Anstalt München-Stadelheim der Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Anton Malloth stattfand. Für den damaligen Vorsitzenden Richter Jürgen Hanreich war es wohl der persönlichste Prozess seiner Karriere. Jetzt hat der pensionierte Jurist (77) ein Buch darüber geschrieben, Titel „Das späte Urteil“. Darin erlaubt er einen tiefen Einblick in seine damalige Gefühlslage. Aber er geht auch mit der Justiz, der er einst selber angehörte, hart zu Gericht. Er wirft ihr Versagen vor, was die allgemeine Aufarbeitung der NS-Gewalttaten angeht.

Es war ein unangenehmer Weg, damals im Frühjahr 2001, der uns Gerichtsreporter in den zum Sitzungssaal umfunktionierten Konferenzraum der Justiz-Vollzugsanstalt führte. Das Warten im engen Eingangsbereich, in dem auch die Angehörigen der anderen Gefangenen ihre Besuchszeiten beantragten, Geschrei, weinende Kleinkindern, Zigarettenqualm und ein permanent lauter Türsummer. Irgendwann öffneten sich dann für die Beobachter – Journalisten wie Besucher – die Türen, stets eine nach der anderen. Ganz langsam bewegte sich die Menge vorwärts. Nach jedem Einlass wurde jede Tür sofort wieder versperrt. Selbiges Prozedere wiederholte sich bei jedem Toilettengang.

Doch Malloth, ein Angeklagter im Greisenalter (89), der abgemagert und regungslos in seinem überdimensional wirkenden Rollstuhl saß, sollte die Fahrt ins Strafjustizzentrum am Stiglmaierplatz erspart bleiben – unabhängig vom Vorwurf, dass er 56 Jahre zuvor als Aufseher im Gestapo-Gefängnis Kleine Festung Theresienstadt Häftlinge zu Tode geprügelt hatte.

Außerdem hatte das Schwurgericht München I, dessen Vorsitzender der Buchautor damals war, schon Erfahrung mit dem „Sonder-Gerichtsstandort“ Stadelheim. Gleichzeitig zum Malloth-Prozess fand unter seiner Regie auch ein Verfahren gegen die Russenmafia, in der Person des Auftragskiller Alexander B., statt. Hanreich schreibt, dass die Sicherheitsvorkehrungen immens waren. Der damalige Staatsanwalt sei bedroht worden. Ein Sonder-Einsatz-Kommando (SEK) verweigerte schließlich wegen der Gefahrenlage den täglichen Transport des Angeklagten ins Münchner Gericht.

In dieser Zeit mordete der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe in München. Während ihres fünfjährigen Prozesses gehörte der Staatsanwalt, der Malloth wegen Mordes angeklagt hatte, zum Senat des Oberlandesgerichts (OLG). Jürgen Hanreich schrieb während der Plädoyers sein Buch zu Ende. Darin kommt er auf diese Verbindungen zu sprechen, die sich damals noch nicht so ziehen ließen. Deshalb ist das Buch auch vor allem etwas für Insider, für Juristen oder Prozessbeobachter aus der Zeit um 2001.

Autor Hanreich sieht „Das späte Urteil“ nicht als persönliche Aufarbeitung an, sondern als kritische Auseinandersetzung mit den Versäumnissen einer schleppend arbeitenden Nachkriegs-Justiz. Er selber hatte sich in einem ersten Buchentwurf nur unzureichend diesem Thema gewidmet und änderte das.

Dabei musste er auch erkennen, dass sein Doktorvater Theodor Maunz in das NS-Regime verstrickt war. Selbst in der Nachkriegszeit blieb der Professor und zeitweilige Kultusminister diesen Gedanken offensichtlich verhaftet – er schrieb ja inkognito für die „Deutsche Nationalzeitung“. Viel zu spät, so gibt Hanreich zu, habe er sich um die deutsche Geschichte und speziell die Justiz im NS-System gekümmert. Dabei war sein Vater Richter am Oberlandesgericht in Leitmeritz gewesen und somit eigentlich zuständig für die Greueltaten von Malloth zwischen 1940 und 1945.

Der Vater fiel an der Ostfront, als Hanreich drei Jahre alt war. Er wuchs als Halbwaise auf. Seine Matter erzählte nach dem Krieg fast nichts vom Vater. Im Vorfeld des Prozesses wurde Hanreich als „Tätersohn“ beschimpft. Befangen fühlte er sich dennoch nicht.

Das Buch widmet sich über lange Passagen den äußerst schwierigen Prozess-Vorbereitungen. Hanreich war eigens nach Tschechien gefahren, um Tatzeugen zu einer Aussage zu bewegen. Die wollten nicht mehr aussagen, nachdem sie in einem ersten Ermittlungsverfahren Jahre zuvor in Dortmund ihrem Peiniger auf demütigende Art und Weise gegenübergestellt worden waren. Das Verfahren war damals mangels Beweisen eingestellt worden. Dabei hatten die tschechischen Behörden sämtliche Straftaten akribisch genau festgehalten und Malloth in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Dementsprechend fand die dortige Justiz überhaupt kein Verständnis für die mehr als zögerliche Behandlung der NS-Gewalttaten.

1988 wurde Anton Malloth von Italien nach Deutschland ausgewiesen. Die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, ein von der Himmler-Tochter Gudrun Burwitz geführter Verein, verhalf ihm zu einem Zimmer in einem Seniorenheim in Pullach (Kreis München). Erst im Jahr 2000 wurde Malloth – damals schon recht gebrechlich – festgenommen.

Wenige Minuten vor dem Prozessauftakt in Stadelheim hatte Richter Hanreich den Angeklagten Malloth aufgesucht und ihn gefragt, ob er aussagen wolle. Noch nie zuvor war der Richter vor einem Prozess auf einen Angeklagten zugegangen. Malloth lehnte ab und sagte zu Hanreich: „Nein, das verstehen Sie nicht, Sie waren ja nicht dabei.“ Diese Bemerkung gehört zu den besten Stellen im Buch. Denn an ihr muss sich nun das Gericht messen lassen, ohne Malloths ablehnende Worte preisgeben zu dürfen. Doch jetzt, 18 Jahre später, entschärft Hanreich diesen Vorwurf, indem er nicht die Handlungen der NS-Zeit generell rügt, sondern das Verhalten der gesamten Justiz in der Demokratie.

Das späte Urteil

Ein Münchner NS-Prozess oder das Versagen der Nachkriegsjustiz“, 191 S., Volk-Verlag, 19.90 Euro

* Gerichtsreporterin Angela Walser hat 2001 für unsere Zeitung den Prozess verfolgt.

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