Puchheim/München – Er ist entschlossen zu Hause losgelaufen. Doch auf den letzten Metern werden seine Schritte immer langsamer. Norbert G. geht gerade den schwersten Weg seines Lebens – zu seinem ersten Treffen einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. In den vergangenen Wochen hat er alles verloren. Seine Frau, die kleine Firma, die er sich aufgebaut hatte, seine gesamten Ersparnisse. Vielleicht musste er erst so tief fallen, um zu erkennen, was der Alkohol über Jahre hinweg aus seinem Leben gemacht hat, glaubt er heute. „Es gab diesen einen Moment, den ich gebraucht habe“, sagt er. Den Augenblick, in dem er spürte, dass es so nicht weitergeht. Dass er Hilfe braucht. Es war nicht so schwer, wie er gedacht hatte, im Internet eine Anlaufstelle zu finden. Er hat das Blaue Kreuz in München angerufen, sich den Termin für das nächste Treffen geben lassen. Aber auf dem Weg dahin kommen die Zweifel. Und die Angst.
Norbert G. hat es damals geschafft, die Tür zu öffnen und auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Es war wohl die größte Überwindung, glaubt er. „Hätte ich das nicht geschafft, wäre ich heute nicht mehr am Leben.“ Bei den ersten Treffen hat er nur zugehört. „Ich bin nicht bedrängt worden.“ Die anderen in der Gruppe seien offen und empathisch gewesen. Deshalb ist er wieder hingegangen. Und irgendwann hat er den Mut gefasst, ihnen seine Geschichte zu erzählen.
Es ist eine Geschichte, die harmlos beginnt. Mit Abenden im Biergarten unter Freunden. Damals war er Anfang 20 – und wenn es Probleme in seinem Leben gab, trank er eben. „Ich habe nie richtig gelernt, mit Krisen umzugehen“, sagt er rückblickend. Damals war ihm das nicht klar. Mit 26 merkte er zwar, dass er zu viel und zu oft trinkt – und nicht mehr nur mit Freunden. „Aber als ich das erkannt hatte, steckte ich schon voll drin.“ G. war selbstständig – in seinem Büro konnte er auch während der Arbeit trinken. Irgendwann stieg er von Bier auf Wein um, dann auf Härteres. „Ich musste ständig meinen Pegel halten, um noch zu funktionieren“, erzählt er. „Der Alkohol hat immer mehr mein Leben bestimmt.“
Ständig fand er Ausreden, warum er das Aufhören auf später verschieben muss. Erst mal die Firma retten, erst mal alles andere auf die Reihe kriegen. Und dann, 2002 kam der Tag, an dem er seine innere Stimme nicht mehr unterdrücken konnte. „Es ist regelrecht aus mir herausgebrochen, dass ich Hilfe will.“ Aber es gehörte viel Kraft dazu, den Berg zu bewältigen, der vor ihm lag. Er erkannte, dass er sein gesamtes Leben umkrempeln muss. „Mir war immer klar, ich habe nur diesen einen Versuch. Wenn ich rückfällig geworden wäre, hätte ich es nicht ein zweites Mal geschafft.“ Es war oft schwer, aber nie zu schwer. Auch dank des Blauen Kreuzes, sagt G.
Nicht alle Geschichten gehen so gut aus wie seine, das weiß der 58-Jährige aus Puchheim (Kreis Fürstenfeldbruck) inzwischen. Denn sieben Jahre lang leitete er Selbsthilfegruppen des Blauen Kreuzes München e.V. und hörte Suchtgeschichten, die ähnlich harmlos begannen wie seine und mit Alkoholabhängigkeit endeten. Die Teilnehmerzahl in den Gruppen wächst kontinuierlich. Das Blaue Kreuz hilft im Großraum München aktuell 800 Menschen in rund 60 Selbsthilfegruppen. „Der Arbeitsdruck wird immer größer“, sagt der Vorsitzende Bernd Zschiesche. Zukunftsängste, Altersarmut, Arbeitslosigkeit – es gebe viele Auslöser, die Menschen schleichend in die Alkoholsucht treiben. Die Selbsthilfegruppen seien die Ergänzung zu einer ambulanten oder stationären Therapie, betont Zschiesche. „Ohne Therapie führt kein Weg aus der Sucht.“ Aber die Rückfallquote werde durch die Gespräche in der Gruppe deutlich reduziert. „Von 86 auf 24 Prozent“, sagt Zschiesche.
Der Unterschied zu den Anonymen Alkoholikern sei, dass die Leiter in Selbsthilfegruppen vom Blauen Kreuz versuchen, eine Debatte anzustoßen. „Unser Ziel ist, dass ein Dialog entsteht“, sagt Zschiesche. Jeder darf nachhaken. „Das ist unbequemer, als nur die eigene Geschichte zu erzählen. Aber es ist effektiv, um die Ursachen für die Sucht zu finden. Und das reduziert das Rückfallrisiko.“
Norbert G. sagt, dass er aus den Gesprächen die Kraft gezogen hat, die er brauchte, um gegen seine Sucht anzukommen. „Ich habe etwa sechs Treffen gebraucht, bis ich es geschafft habe, mich zu öffnen.“ Und er erinnert sich an das Gefühl, als es ihm gelang. „Auf einmal war alles ok.“ Er kam nicht nur zu den Gesprächen, sondern auch zu gemeinsamen Aktivitäten.
Nicht allen reicht die Gemeinschaft, um den Weg aus der Sucht zu finden. Manchmal passiere es, dass ein Teilnehmer nicht mehr zu den Treffen kommt und dass alle Versuche scheitern, mit ihm in Kontakt zu bleiben. „Dieses Gefühl der Ohnmacht ist nicht leicht auszuhalten“, sagt G. „Aber letztendlich muss jeder seinen eigenen Weg finden. Es gibt keine Schablonen.“
Sein Weg ist es, mit seiner Suchtgeschichte offen umzugehen. Meistens bekommt er positive Reaktionen. „Es ist wichtig, über dieses Thema zu sprechen“, sagt er. „Denn Alkohol ist in unserer Gesellschaft immer fester verankert. Schon bei Jugendlichen.“ Norbert G. ist niemals rückfällig geworden. Obwohl es Alltagssituationen gab, in denen es schwer war. Aber er weiß: „Das Suchtgedächtnis ist nie ganz verschwunden.“ Der Kampf gegen die Sucht ist nie vorbei.
Er wusste, dass er nur einen Versuch hat, aufzuhören
Jeder muss seinen eigenen Weg aus
der Sucht finden