München – Daniel Jung tritt vor das Whiteboard. Mehrere Koordinatensysteme sind mit blauem Filzstift nebeneinander und untereinander aufgezeichnet, dazu Gleichungen und Parabeln. Dann beginnt Jung zu erklären. Knapp sieben Minuten lang geht es um Quadratische Funktionen, Scheitelpunkt, Stauchung und Streckung. Über 1,1 Millionen Mal ist das Video bisher auf der Plattform YouTube aufgerufen worden, seit Jung es im Oktober 2012 hochgeladen hat. Es ist das beliebteste auf dem Kanal „Mathe by Daniel Jung“.
Jung, Ende 30 und aus Remscheid, ist einer der bekanntesten Produzenten von Bildungsvideos in Deutschland, sein Kanal hat mehr als 516 000 Abonnenten. Jung hat Mathematik und Sport studiert, brach das Studium jedoch ab und gründete stattdessen ein Nachhilfeunternehmen. Heute befasst er sich mit Innovationen im Bildungssektor.
Parallel lädt er im Schnitt jede Woche ein kurzes Video hoch, in dem er kurz und schnörkellos ein spezifischen mathematischen Problem erklärt. Seine über 2000 Videos auf YouTube sind nach Jahrgangsstufen und Themen sortiert, man kann sie kostenlos ansehen.
Jungs Videos richten sich auch die bayerischen Abiturienten, für die morgen die Prüfungen beginnen. Los geht es für die rund 37 000 Schüler mit dem Deutsch-Abitur, Mathe steht am Freitag auf dem Plan. Es ist das Fach, für das sich die meisten Schüler interessieren – zumindest, wenn es um Nachhilfevideos geht. Unter den gesuchten Schulfächern auf Google rangierte Mathematik in diesem Jahr auf Platz eins, vor Chemie und Physik.
Längst haben Smartphone und Tablet Einzug gehalten in das Lernverhalten von Schülern. Bayerns Schüler lassen sich laut Google Trends – ein Online-Dienst des Suchmaschinenanbieters, der misst, welche Suchbegriffe wie oft eingegeben werden – vorwiegend in den Naturwissenschaften helfen. Im Rest der Republik ist neben Mathe und Biologie auch Nachhilfe in Sachen Geschichte gefragt.
Cedric Petitpas kümmert sich bei YouTube um die Themen Lernen und Bildung. Er sagt: „Es gibt Videos für nahezu alle Interessen. Seit einigen Jahren sehen wir ein großes Wachstum bei Erstellern von Lernvideos und den Fans dieser Kanäle.“ Laut Petitpas schauen sich Nutzer jeden Tag „mehr als eine Milliarde Videos an, die sich mit dem Thema Lernen beschäftigen“. Hinter einigen Kanälen stehen Menschen, die das Fach studiert haben oder studieren, sagt er. „Eine Sache haben alle gemeinsam: Sie bringen viel Leidenschaft für ihre Themen mit und sind gut darin, komplizierte oder umfassende Themen für ihre Zuschauer so herunterzubrechen, dass sie schnell und einfach zu verstehen sind.“
Ersetzen Videos in Zukunft den klassischen Abiturtrainer oder Nachhilfe? Michael Schwägerl, Chef des Bayerischen Philologenverbands (BPV), ist skeptisch. „Es mag für den einen oder anderen sicherlich eine gute Ergänzung sein“, sagt er. „Aber wir sehen die Grenzen des zusätzliches Angebots.“ Grundvoraussetzung sei, dass der Erklärende nicht nur etwas von der Sache verstehe, sondern sie auch so vermittelt, dass es zu den Unterrichtsinhalten passt.
„Entscheidend ist auch der Austausch mit den Mitschülern. Das kann kein Video-Tutorial auffangen.“ Das Lernen habe sich in den letzten 20 Jahren nicht geändert, „es dreht sich um die eigene Auseinandersetzung mit der Materie“. Die Methodik bleibe die gleiche, auch wenn die Medien sich ändern.
Auch Cedric Petitpas sagt: „Ich denke nicht, dass man die beiden Optionen Video und klassisches Lernen miteinander vergleichen kann. Es sind zwei unterschiedliche Wege.“ Ob die Video-Nachhilfe zum Erfolg führt, wird sich bei manchem bayerischen Abiturienten spätestens Ende Mai zeigen – dann sind die mündlichen Prüfungen abgeschlossen. KATHRIN BRACK