Schliersee – Walter Alkofer hatte sich auf eine ruhige Saison eingestellt. Die Schneemengen, die der Leiter der Lawinenkommission Schliersee (Kreis Miesbach) bis Dezember an seinen Messstationen notiert, fallen eher mäßig aus. „Noch an Weihnachten dachte ich“, sagt Alkofer, „dass dieser Winter sehr gemächlich wird.“
Das ändert sich ab dem 4. Januar. Der Winter kommt mit ungeahnter Wucht und massiven Schneefällen in weiten Teilen Bayerns. Alkofer misst in seinem Gebiet 60 Zentimeter in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar. Und das ist erst der Anfang. Der Schneefall hört nicht mehr auf. Bereits am 6. Januar sieht sich Alkofer das erste Mal genötigt, die Spitzingstraße zu sperren, wegen akuter Lawinengefahr. Am 7. Januar ruft der Landkreis Miesbach den Katastrophenfall aus.
Mitte Januar ist in vielen oberbayerischen Gemeinden die Situation prekär. Ortschaften sind eingeschneit, Züge können nicht mehr fahren, Bäume und Dächer drohen, unter der Schneelast zusammenzubrechen. Es ist ein Winter, der Behörden und Rettungskräfte an ihre Grenzen bringt, und der Walter Alkofer mehr als eine unruhige Nacht beschert.
Zwölf Lawinenabgänge verzeichnet er insgesamt in seinem Gebiet. Im Jahr davor waren es vier. „Verdammt gefährlich war der Winter“, sagt der 76-Jährige. „Ich mache diese Arbeit jetzt seit 48 Jahren, aber so einen Winter habe ich noch nicht erlebt.“
Sechs Mal hat Alkofer potenzielle Lawinen sprengen lassen, in ganz Bayern waren es 700. Das sind laut Umweltministerium 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch andere Zahlen zeigen einen Winter der Extreme. 140 Mal mussten nach Angabe der Lawinenwarnzentrale Bayern Straßen und Wege gesperrt werden. In normalen Wintern sind es zehn Sperrungen. An 14 Tagen herrschte die Lawinenwarnstufe vier, die zweithöchste Warnstufe. „Im Januar hatten wir zwölf Tage am Stück Gefahrenstufe vier, das hat es meines Wissens noch nicht gegeben“, sagt Thomas Feistl, stellvertretender Leiter der Lawinenwarnzentrale. Insgesamt kamen bei Lawinenunglücken in Bayern vier Menschen ums Leben. Das folgenreichste ereignete sich in den Ammergauer Alpen, als zwei Tourengeher von einer Gleitschneelawine erfasst wurden und starben.
„Die Gefahr von Gleitschneelawinen war in diesem Jahr besonders groß“, sagt Alkofer. Wenn warmer Grasboden im Frühwinter einschneit, wirkt der Schnee wie eine Isolierschicht. Der Boden bleibt feucht und kann mit der Schneedecke keine feste Verbindung eingehen. Auf steileren Hängen kann der Schnee deshalb jederzeit abrutschen. „Wann das passiert, weiß niemand“, sagt Alkofer.
Auch so erfahrene Experten wie er nicht. Als er an einem Tag Ende Februar an der Unteren Firstalm routinemäßig den Schnee untersucht, macht er sich auch Gedanken über die Risse in der Schneedecke des nahe gelegenen Hangs. Die Risse sind mögliche Vorboten einer Gleitschneelawine. „Ich habe die Risse über Wochen beobachtet, sie haben sich nicht verändert, von daher dachte ich mir, das hält schon noch.“ Alkofer fährt nach Hause. Eine halbe Stunde später bekommt er einen Anruf. Die Schneedecke, von der er dachte, sie würde halten, ist als Lawine abgegangen. „Das war schon ein Riesenschreck“, sagt Alkofer.
Den größten Schrecken aber hat ihm ein anderes Ereignis eingejagt. Im Januar ist ein Team Alkofers mit dem Hubschrauber unterwegs, um potenzielle Lawinen zu sprengen. Drei Sprengladungen werfen sie ab. Zwei explodieren, die dritte nicht. Zehn Kilogramm Sprengstoff sind kurzzeitig nicht auffindbar. „Wir hatten schlechtes Wetter, es hat gedauert, bis wir die Sprengladung orten und neu zünden konnten“, sagt Alkofer. Der Lawinen-Experte atmet hörbar durch. „Das war eine Situation“, sagt er schließlich, „die brauche ich nicht jeden Tag.“
Am 1. Mai endete in den letzten Skigebieten die Saison offiziell. Nicht aber für Walter Alkofer. „Wir haben noch viel Schnee“, sagt er. „Den muss ich weiter beobachten.“ Das gelte auch für Tourengeher und Bergsteiger. „Solange noch Schnee da ist, ist auch die Gefahr noch nicht vorbei.“