Rettenbach am Auerberg – Der Notruf kam um 10 Uhr vormittags. „Das Nachbarhaus fehlt.“ Was kurios klingt, ist in Wahrheit ein großes Unglück. Ein Wohngebiet im 900-Seelendorf Rettenbach am Auerberg (Kreis Ostallgäu): Zwischen grünen Wiesen und liebevoll bepflanzten Gärten liegt ein großer Trümmerhaufen. Rund 350 Retter von Polizei, Feuerwehr, Bayerischem Roten Kreuz, Bergwacht und Technischem Hilfswerk sind hier seit gestern Vormittag rund um die Uhr im Einsatz. Jede Minute zählt. „Der Vater und seine Tochter sind vermutlich unter den Trümmern“, sagt Edmund Martin, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Kempten.
Spürhunde laufen über das Schuttfeld, mittags schlägt einer erstmals an: Gemeinsam gelingt es den Rettern, eine Frau zu bergen. Schwer verletzt wird sie ins Klinikum geflogen. Es ist die Mutter (39) des Mädchens. „Aufgrund ihrer Aussage müssen wir davon ausgehen, dass Vater und Tochter sich im Haus befanden, als es explodierte“, erläutert Martin.
Als die Einsatzkräfte von dem Unglück hören, vermuten viele: Gasexplosion. „Wir haben Gasversorgungen in der Straße – doch das betroffene Haus war nicht daran angeschlossen“, kommentiert Rettenbachs Bürgermeister Reiner Friedl die Spekulationen zur möglichen Ursache des Unglücks. Die Kripo Kempten ist vor Ort, um zu ermitteln.
Vorrangig ist jetzt aber: die Rettung der Verschütteten. Von überall kommen Menschen, um sich an der Arbeit zu beteiligen. „Die Leute wollen nicht heimgehen, jeder will helfen“, erzählt Polizeipressesprecher Martin. Sichtlich beeindruckt von der großen Solidarität. „Der Bürgermeister hat für die Verpflegung der Retter den Dorfladen öffnen lassen, aus Schongau kamen Anfragen von Einzelhändlern, ob sie Lebensmittel bringen sollen.“ Aus den Nachbarlandkreisen und aus Österreich rücken Helfer an. Experten in der Erdbebenrettung werden eingeflogen.
Tatsächlich schaut es aus wie nach einem Erdbeben. 200 bis 300 Meter weit flogen die Hausteile. Einige Nachbarn wurden davon getroffen und teilweise schwer verletzt. Die Dimension der Explosion wird deutlich, wenn man sich das völlig zerstörte Auto der Familie anschaut. Das hatte während der Detonation in der Garage gestanden – nun liegt es Meter davon entfernt auf der Straße. Auch die Nachbarhäuser sind in Mitleidenschaft gezogen. Eines ist laut Statiker nicht mehr bewohnbar. Die Menschen, verunsichert von der Situation, haben ohnehin ihre Häuser verlassen und sind bei Freunden untergekommen. „Alle hier sind geschockt“, sagt eine erschütterte Anwohnerin.
Unermüdlich sammeln die Helfer die verstreuten Teile rings um die Unglücksstelle ein. Mit schwerem Gerät bearbeiten sie den großen Schutthaufen. „Erst hatten wir gedacht, seitlich in die Trümmer vordringen zu können, um nach den Opfern zu suchen“, erklärt Martin. Doch die Einbruchgefahr ist zu hoch. So müssen sie sich von oben nach unten vorarbeiten, Schicht für Schicht. Immer in der Hoffnung, dass sich irgendwo ein Luftloch gebildet hat, in dem Vater (42) und Tochter (7) atmen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie überleben, sinkt mit jeder Minute.
„Wir stellen uns auf einen Nachteinsatz ein“, sagt Martin. Dabei macht das Wetter es den Helfern schwer. Regen und Gewitter sind für die Nacht angesagt. Die Arbeit auf den Trümmern wird rutschiger, damit für die Helfer gefährlicher. Und die bereitstehenden Rettungshubschrauber können im Zweifel nicht abheben, die Opfer also nicht auf schnellstem Wege ins Klinikum gebracht werden.
Martin und seine Kollegen geben die Hoffnung nicht auf. „Die Leute hier arbeiten, das ist der Wahnsinn. Wir haben die Mutter gefunden und setzen alles daran, auch den Rest der Familie lebend zu bergen.“ Bis Redaktionsschluss suchten die Helfer weiter.