München – „Ein Bulle ist die halbe Herde“, heißt ein beliebter Leitspruch unter Rinderzüchtern, der auf die rege Begattungstätigkeit eines einzelnen Stieres anspielt. Doch ein Stier kann auch zur Gefahr werden, wie der jüngste Vorfall in der Oberpfalz zeigt. Dort kamen am Wochenende ein 60-jähriger Landwirt und dessen 87-jähriger Vater ums Leben, nachdem beide auf der Weide von ihrem Stier angegriffen wurden.
Es ist bereits der zweite tödliche Zwischenfall mit einem Stier in diesem Jahr im Freistaat. In Niederbayern wurde im März ein 60-jähriger Mann beim Verladen eines Stieres tödlich verletzt. Die Berufsgenossenschaft verzeichnet jedes Jahr rund 1000 Unfälle mit Rindern im Jahr – wenngleich viele davon glimpflicher ausgehen als bei der Tragödie vom Samstag in der Oberpfalz.
Helmut Goßner hat jeden Tag mit wilden und weniger wilden Stieren zu tun. Er ist Geschäftsleiter des Besamungsstation Greifenberg im Landkreis Landsberg, wo derzeit knapp 300 Bullen leben. „Jeder einzelne von ihnen hat einen anderen Charakter“, sagt Goßner. Grundsätzlich seien die Tiere aber unberechenbar – und das macht die Arbeit mit ihnen so gefährlich. „Es spielen so viele Faktoren eine Rolle, wenn ein Stier aggressiv wird.“ Da reicht es schon, wenn das Tier in der Nacht von einem Gewitter aufgeschreckt wurde. Wenn der Hund eines Spaziergängers auf der Weide die Herde aufgescheucht hat. Oder wenn schlicht gerade eine Mückenplage für Unruhe sorgt. Auch eine Hitzewelle wie in den vergangenen Wochen könne den Tieren aufs Gemüt schlagen. „Ein Landwirt, der seine Weide betritt, muss deshalb grundsätzlich ein Auge bei seinem Herrn haben“, wie Goßner den Stier nennt.
Seine Mitarbeiter sind angehalten, nie alleine zu einem Stier in die Box zu gehen. Und auch ein Strick alleine reiche im Umgang mit den mächtigen Bullen nicht aus. „Da ist die Führstange am Nasenring Pflicht.“ Doch neben allen technischen Sicherheitsvorkehrungen ist das Gefühl des Landwirts entscheidend: „Das A und O ist, dass man sein Tier kennt“, sagt Goßner. Während manche Stiere gerne spielen und schon deshalb hier und da mit den Hufen scharren und schnauben, ist das bei anderen Bullen schon ein kritisches Alarmsignal.
Doch selbst wenn es wie auch bei dem jüngsten Fall in der Oberpfalz nie Probleme mit dem Stier gab, ist das keine Sicherheitsgarantie. Nach ersten Erkenntnissen der Polizei hatte der Bulle wohl seine Herde verteidigen wollen, als der Landwirt den Kälbern die Ohrmarken anbringen wollte.
Sogenannte Deckbullen kommen in Bayern ohnehin nur noch selten zum Einsatz. „Etwa fünf Prozent der Kälber in Bayern werden per Natursprung gezeugt“, sagt Goßner. Beim Großteil der Rinder wird dagegen künstlich besamt. „Das ist aus Sicht mancher zwar nicht mehr die heile Tierwelt“, sagt Goßner. Aber es sei sicherer und bewahre die Tiere davor, sich mit Krankheiten anzustecken. So kann es sein, dass ein Stier aus Goßners Besamungsstation in seinem Leben indirekt bis zu 20 000 Kälber zeugt. „Ein Bulle ist die halbe Herde“ reicht da als Leitspruch wohl gar nicht mehr aus.