Oberstdorf – Der Hochvogel ist ein schlafender Hochrisikoberg. Irgendwann wird die 2592 Meter hohe Felspyramide an der Grenze zwischen Bayern und Tirol auseinanderbrechen. Seit mindestens 140 Jahren gibt es im Gipfelbereich eine Spalte, die stetig breiter und tiefer wird. „Ich kann nicht ausschließen, dass es in diesem Jahr zu Felsstürzen kommt“, sagt Wissenschaftler Michael Krautblatter. Vielleicht auch später, keiner weiß es genau. Schon seit 2014 ist eine Aufstiegsroute über den Bäumenheimer Weg gesperrt. Hier sei es „wirklich lebensgefährlich“, sagt der Geologe und Professor für Hangbewegungen an der TU München.
Die Kluft im Berg ist seit 1869 bekannt. Damals beschrieb Hermann von Barth, ein Alpinist der ersten Stunde, den Spalt in einem Artikel mit dem Titel „Eine Nacht auf dem Hochvogel“. Seit 2018 ist die Wissenschaft dem Berg auf der Spur. Mit einem Team hat Krautblatter den Berg mit zehn Dehnungs-Sensoren ausgestattet, um die Spalte zu überwachen (wir berichteten). Ergebnis der bisherigen Messungen: 1960 war der Spalt zehn Meter lang, jetzt sind es schon über 35 Meter. Außerdem wird die Spalte immer breiter, es sind nun über vier Meter. „Im Schnitt nimmt der Abstand zweieinhalb Millimeter pro Monat zu“, sagt Krautblatter.
Der Wissenschaftler sitzt in seinem Büro an der Münchner Steinheilstraße, ein paar Klicks, dann öffnen sich am Computer Simulationen und Grafiken. Panik schüren will Krautblatter nicht. „Am Hochvogel lernen wir“, sagt er. 2018 war es nicht so schlimm, der Spalt verbreiterte sich nur um 2,5 Zentimeter. Es lag vielleicht am trockenen Sommer. Auch 2019 wuchs die Kluft langsamer. „Das kann sich bei Regen rasch ändern.“
262 100 Kubikmeter Fels könnten insgesamt ins Hinterhornbach-Tal auf der Tiroler Seite stürzen. Nicht auf einmal, glaubt Krautblatter, sondern portionsweise, denn die Abspaltung besteht aus sechs unterschiedlich großen Felsformationen.
Krautblatters Team hat in einer Simulation errechnet, wo die Felsblöcke landen könnten. Das Szenario „West Extreme“ geht davon aus, dass Felsblöcke zwei Wildbäche und eine Straße im Hinterhornbach-Tal verschütten würden.
Vor zwei Wochen lud der Wissenschaftler daher den Bürgermeister von Hinterhornbach in den Helikopter und flog auf den Berg. Jetzt kennt der Rathauschef die Gefahr aus eigener Anschauung. Krautblatter drückte ihm auch das Szenario „West Extreme“ in die Hand. Demnächst wird er mit Umweltminister Thorsten Glauber auf den Gipfel fliegen. Ministerpräsident Markus Söder wäre auch gern mit, darf aber aus Sicherheitsgründen nicht – der Hubschrauber landet nur auf einer Kufe.
Es ist nicht der einzige Berg, der absplittert. Seit mehreren Jahren ist auch ein Felsblock hoch über der Höllentalklamm in Garmisch-Partenkirchen mit vier Sensoren verdrahtet. 615 Kubikmeter Fels könnten in die Klamm stürzen – Sensoren sollen davor warnen, denn Stunden oder Tage zuvor wird sich der große Felssturz durch Verschiebungen im Millimeterbereich ankündigen, sagt Krautblatter. Dann würde die Klamm gesperrt. Auch mit der Bayerischen Zugspitzbahn ist der Forscher in Kontakt. Vorstand Peter Huber wollte wissen, ob auch an der Zugspitze Gefahr droht – schon mehrere Millimeter Hangverschiebung könnten die Bergbahn lahm legen. Bis jetzt gibt es dafür keine Anzeichen. Krautblatter glaubt, dass die Hangbewegungs-Forschung ein Zukunftsfeld ist. Felsblöcke mit Sensoren zu überwachen sei billiger, als einen ganzen Berg zu verbauen. So aufwändige Sperrungen wie demnächst an der B 2 nach dem Autobahnende bei Garmisch-Partenkirchen hätten vermieden werden können.