München – Die „Fischer-Chöre“, über Jahrzehnte fester Bestandteil bundesrepublikanischer TV-Unterhaltung, sagen Jens Junker (42) wenig: Die Familie hatte keinen Fernseher. Ähnlich wie bei Gotthilf Fischer, dem immer enthustiastischen Dirigenten der Massenchöre, ist um Junker jedoch eine Bewegung entstanden, die bereits Hunderte von Münchnern ihre Stimme erheben lässt.
Der von ihm und dem britischen Musiker Ian Chapman, dessen Bandprojekt „Gurdan Thomas“ heißt, ins Leben gerufene „Go Sing Choir“ ist ein offener Popchor, der mindestens einmal im Monat nichts weniger tut, als eine große Gruppe von Menschen glücklich zu machen. Dem Wahren, Schönen, Guten und Geselligen war Junker schon immer zugetan: Bereits als Kind lernte er mehrere Instrumente, sang im Kirchenchor, alles mit klassischem Repertoire. Heute ist er Filmemacher und mit dem Münchner Kneipenchor, den er ebenfalls leitet, auch auf großen Festivals vertreten.
Weil dessen Warteliste irgendwann explodierte – die Mischung aus ambitioniertem Singen und ebensolchem Feiern scheint unwiderstehlich – gründete er mit dem aus Birmingham stammenden Ian Chapman 2017 den „Go Sing Choir“. Chapman und er kannten sich vom gemeinsamen Projekt „Schicksalscombo“. Mit dem neuen Chor trafen die beiden offenbar den Zeitgeist: Eine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Verbindung, aber ohne allzu große Verbindlichkeit. Enthusiasmus: ja. Beharrliche Präzision: eher nein. Singen: ja, bitte. Aber wenn möglich kein „Liedgut“, sondern bekannte Rock- und Popsongs.
Diese wählen die charismatischen Chorleiter mit sicherem Griff aus, von Nirvana über die Pixies und Radiohead bis hin zu Ben E. Kings „Stand by Me“, Nena und Coldplay. Auch lokal-saisonal zeigen Junker und Chapman Gefühl: Zur Wiesnzeit gab es „Skandal im Sperrbezirk“, zu Auftritten beim Stadtgründungsfest auf dem Marienplatz „Ohne dich“ von der Münchner Freiheit und „Ein Kompliment“ von den Sportfreunden Stiller.
Im Kneipenchor gilt Jens Junker als Perfektionist, beim „GSC“ zählen die spontane Energie und die Gemeinschaft. So auch an diesem Abend im Club „Strom“ an der Lindwurmstraße, der die „Milla“ im Glockenbachviertel als Location abgelöst hat – es wurde dort einfach zu voll.
Ein paar Chor-„Urgesteine“, die vor zwei Jahren mit 40 Gleichgesinnten und Amy Winehouses „You know I’m no good“ Neuland betraten, vermissen bereits die guten alten Zeiten. Aber Singen bedeute auch Entwicklung, findet Junker: „Für mich ist das Projekt sehr organisch gewachsen. Einen Hype habe ich zu keiner Zeit gespürt. Das Gute ist heute: Wir müssen nicht immer bei Null anfangen und können die Songs auch mal komplexer arrangieren.“
Trend hin oder her: Das schöne Wetter an diesem Abend hat weder den harten Kern noch die Neulinge abgehalten, die in einem nicht zu stoppenden Strom in den Strom-Club kommen. Heute wird „Otherside“ von den Red Hot Chili Peppers eingeübt. Dazu läuft ein gut etabliertes Ritual ab: Ein Video des Songs steht bereits eine Woche vor dem Termin auf Facebook. Viele haben vermutlich bereits ein paar Mal unter der Dusche geübt. Jetzt haben sie die Einlassschlange überwunden, sich ein Getränk besorgt und legen los. Vielleicht „können“ viele gar nicht singen, wie sie beteuern, aber zweifellos wollen sie es: Dreistimmig einen Song erleben, der sie in einer bestimmten Lebensphase berührt hat.
Nach lustigen, aber sinnvollen Aufwärmübungen („Lumdidadilumdidadi…“) folgt für alle die Entscheidung: „Welche Stimme singe ich?“ Als „Melodiestimme“ kann der Sänger seinen Lieblingssong so richtig durchschmettern, als „Hohe Harmoniestimme“ auf der luftigen Empore stehen oder als „Tiefe Harmonie“ am Rande des Pulks lehnen, wo auch Bar und Tresen ganz nah sind.
Etwa 300 Menschen, vom Kind bis zur Seniorin, werden vom dirigierenden Junker und Chapman an der Gitarre angeleitet – und erleben die positive Wirkung des Singens auf Geist und Körper am eigenen Leib. Wissenschaftlich eindeutig belegt werden Herzen gestärkt, Kreisläufe angekurbelt und Verspannungen gelöst. Ganz nebenbei treffen die Sänger alte Bekannte, schließen Freundschaften und unterstützen sich auch mal bei einem gesanglichen Problem.
Und der größte Clou an der Sache: Es hört sich immer gut an, wie auf den Videos zu sehen ist, die es von jeder Probe gibt. Über die gelöste bis entrückte Stimmung im „Go Sing Choir“ und das begeisterte Teilnehmer-Feedback sagt Junker: „Es ist jedes Mal spannend zu sehen, wie hier in kürzester Zeit etwas Tolles, Relevantes entsteht, in einer echten Solidargemeinschaft. Das wäre sicher auch gesamtgesellschaftlich schön.“ Und Junker hat auch noch Visonen für den Chor: „Warum auch nicht mal in der Philharmonie proben, mit großem Orchester.“ Trotz seiner offenen Struktur entsteht beim GSC also ein Chorgefühl, das dem traditionell-dörflichen Gesangsverein in nichts nachsteht und ihn sogar um andere Dimensionen erweitert. Und wenn sich die drei Harmonielagen dann aufs Stimmungsvollste vereinen, wirkt Jens Junker, als könnte auch ihn nichts glücklicher machen – ganz so, wie das einst bei Gotthilf Fischer war.
Singen am Odeonsplatz
Wer mitsingen möchte, hat an diesem Samstag die Gelegenheit dazu. Beim interkulturellen Ander-Art-Festival auf dem Odeonsplatz studiert der „Go Sing Choir“ zwischen 17 und 19 Uhr der Song „People are People“ von Depeche Mode ein.