München/Augsburg – Der pflegebedürftige Herr benötigte in vielen Bereichen Hilfe, zum Beispiel bei der Körperpflege und beim Rasieren. Das zumindest dachte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK). Tatsächlich aber arbeitete der angeblich kranke Patient als Schweißer. Durch den Betrug ist den Kassen ein Schaden zwischen 60 000 und 70 000 Euro entstanden.
Acht Pflegedienste in Augsburg und zwei Dienste in München stehen unter Verdacht, bei den Pflegegraden eins bis drei im großen Stil die Abrechnungen manipuliert zu haben (wir berichteten). Am Mittwoch durchsuchten Ermittler in Augsburg rund 175 und in München rund 40 Objekte. Sie nahmen 13 Personen fest. „Uns ist ein großer Schlag gegen die organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen gelungen“, erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt Hans Kornprobst, Behördenleiter bei der Staatsanwaltschaft München I, gestern bei einer Pressekonferenz. Pflegenotstand, unzureichende Kontrollmechanismen und viel Geld, das in der Branche fließt, führten dazu, dass Betrüger leichtes Spiel hätten. „Das Gesundheitswesen ist in Teilen ein Schlaraffenland für Kriminelle“, sagte Kronprobst. „Es werden Millionen erbeutet.“ Er betonte: „Es geht nicht um Zweifelsfälle, sondern um Totalfälschungen.“ Nicht erbrachte Leistungen seien abgerechnet und Pflegebedarfe seien vorgetäuscht worden.
Die Ermittler stellten einige Beispiele vor: Ein scheinbar pflegebedürftiger Patient soll im Kiosk gearbeitet und Roller gefahren sein, ein anderer soll mit dem Rollator zum Behördengang und später ohne Hilfsmittel zum Einkaufen gegangen sein. Wenn sich ein Gutachter des MDK ankündigte, sollen die Pflegedienste manipuliert haben. „Sie haben zum Beispiel Rollatoren und Krücken herbeigeschafft“, erklärte Oberstaatsanwalt Richard Findl, ebenfalls von der Staatsanwaltschaft München I. „Wenn die Begutachtung vorbei war, haben sie sie wieder mitgenommen.“ Papiere seien frisiert und Patienten auf die Kontrolle vorbereitet worden. In einem Fall hätte eine Patientin gegen ihren Willen vorher ein hoch dosiertes Beruhigungsmittel bekommen – bei der Überprüfung war sie apathisch.
Bei vielen Betrugsfällen sollen Patienten und deren Angehörige mitgewirkt haben. Sachleistungen und Zahlungen von monatlich 20 bis 130 Euro hätte das laut den Ermittlern vor allem für Sozialhilfeempfänger attraktiv gemacht. Die Verdächtigen stammen vorwiegend aus Osteuropa, zum Teil aber auch aus Deutschland. Die Dienste betreuten rund 1000 Patienten. „Der Kern der wirklich Pflegebedürftigen dürfte aber überschaubar sein“, vermutet Findl. Zum Teil hätten die kriminellen Pflegedienste in Verbindung gestanden, zum Teil hätten sie individuell gehandelt. Hinweise auf einen Kopf eines Netzwerks gebe es nicht.
Im Raum Augsburg wird gegen 40 Betreiber und Mitarbeiter von Pflegediensten, 27 Patienten und einen Arzt ermittelt. In München sind es mehr als 30 Beschuldigte. Die Ermittler zogen Bargeld und Wertgegenstände wie Gold und Schmuck im Wert von knapp acht Millionen Euro ein. Das Geld bewahrten die Verdächtigen meist zu Hause in Koffern oder in Schließfächern auf. Außerdem sicherten die Beamten kistenweise Akten und eine große Menge an digitalen Daten.
Bei der Auswertung sei es notwendig zu priorisieren, erklärte Kriminaldirektor Gerhard Zintl, Leiter der Kriminalpolizeiinspektion Augsburg. „Sonst würden wir Jahre damit verbringen.“ Die Ermittlungen gingen weiter. „Wir wollen die ambulanten Pflegedienste nicht unter Generalverdacht stellen“, betonte Kriminaldirektor Jürgen Miller vom Polizeipräsidium München. Auch im Sinne der ehrlichen Pflegedienste sei es aber, die „schwarzen Schafe konsequent mit Strafverfolgung zu überdecken“. Auch was möglichen Betrug bei der 24-Stunden-Pflege angeht, werde noch ermittelt.