Libysche Milizen bedrohen Sea-Eye

von Redaktion

Die Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye ist bei einem Rettungseinsatz in internationalen Gewässern von libyschen Milizen bedroht worden. Die Libyer feuerten Warnschüsse ab, während die Crew der „Alan Kurdi“ 91 Geflüchtete rettete. Die Crew blieb unversehrt, doch eine junge Frau hat dabei vermutlich ihr ungeborenes Baby verloren, ein Mann wird vermisst.

VON KATRIN WOITSCH

Regensburg – Der Notruf kommt am Samstag über das Alarm-Phone auf der Brücke der „Alan Kurdi“ an. Das Suchflugzeug „Moonbird“ hat aus der Luft ein völlig überladenes Schlauchboot entdeckt, das zu sinken droht, und gibt die Koordinaten an alle Rettungsschiffe vor Ort weiter. Die „Alan Kurdi“ der Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye ist am schnellsten vor Ort. Kapitänin Bärbel Beuse hat mit ihrer Crew seit Tagen für diese Situation trainiert. Doch es wird einer der gefährlichsten Einsätze, die die Sea-Eye in den vergangenen drei Jahren hatte.

Die Retter verteilen gerade Rettungswesten an die rund 90 Menschen auf dem Schlauchboot und beginnen damit, die ersten Menschen von dem sinkenden Boot zu bergen, als sich zwei Schnellboote mit libyscher Flagge nähern. Die Milizen sind schwer bewaffnet – und versuchen, die Rettung der Menschen zu verhindern. Sie positionieren sich zwischen Schlauchboot und der „Alan Kurdi“ und drohen der Kapitänin über Funk damit, ihre Maschinengewehre auf das Schiff auszurichten.

Bärbel Beuse schickt den Großteil der Crew unter Deck, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Lage eskaliert weiter. Die Libyer geben Warnschüsse ab – in die Luft und ins Wasser. Und sie zielen auch auf die Geflüchteten, die vom Schlauchboot gesprungen sind, um auf eines der beiden Sea-Eye-Rettungsboote zu gelangen. Die Menschen schreien. Ein Crewmitglied filmt den Einsatz mit, die Videos liegen unserer Redaktion vor. Der Augenzeuge sagt danach: „Als ich die Schüsse gehört habe, war ich mir sicher, dass heute Menschen sterben werden.“

Die „Alan Kurdi“ ist manövrierunfähig. Die libyschen Boote haben sich so positioniert, dass das Schiff weder vor, noch zurücksteuern kann. Als das Schiff mit dem Schlauchboot kollidiert, stürzen viele Menschen ins Wasser. Auch die Miliz nimmt Menschen an Bord, doch sie springen von den Schnellbooten direkt zurück ins Wasser. Der Sea-Eye-Crew gelingt es trotz Bedrohung und Chaos, die Nerven zu bewahren. Sie zieht die Menschen aus dem Wasser und bringt sie an Bord der „Alan Kurdi“. Die Libyer ziehen sich zurück – das leere Schlauchboot nehmen sie mit.

Für Kapitänin Beuse und ihre 17-köpfige Crew ist der Einsatz damit noch lange nicht vorbei. Sie müssen die Menschen beruhigen und versorgen. Unter ihnen ist eine schwangere Frau mit schweren Unterleibsblutungen. „Wir fürchten, dass sie bei dem Vorfall ihr Baby verloren hat“, sagt Sea-Eye-Vorstand Gorden Isler. Gestern sollte die Frau mit einem Helikopter abgeholt und in eine Klinik gebracht werden. Doch Italien sagte das wetterbedingt ab, berichtet Isler. „Das Wetter ist hervorragend“, betont er. Auch ein Rettungsboot für die Frau wurde gestern nicht geschickt.

Die „Alan Kurdi“ ist mit den Geflüchteten nun unterwegs nach Lampedusa. Die Behörden in Tripolis schrieben der Kapitänin am Samstagabend, sie solle die Menschen nach Libyen bringen. Das lehnte Beuse mit Hinweis auf das Völkerrecht ab. „Wir müssen nun abwarten, wie sich Italien verhalten wird“, sagt Isler. Das norwegische Rettungsschiff Ocean Viking ist mit 104 Geretteten seit einer Woche auf hoher See und darf nicht anlegen. „Das Schockierende ist, dass die Personen, die europäische, zivile Rettungskräfte bedrohen und gefährden, mit Geld der EU unterstützt werden“, sagt Isler am Tag nach dem Einsatz. Er fürchtet, dass es nicht der letzte Vorfall dieser Art war. Auch andere NGOs haben Vorfälle wie diesen erlebt.

Der Vorfall macht der Crew der „Alan Kurdi“ noch zu schaffen, sagt Isler. „Es war das erste Mal, dass jemand ein Maschinengewehr auf sie gerichtet hat. Das hat sie bis ins Knochenmark erschüttert.“ Zu der Sorge um die schwangere Frau kam gestern noch eine weitere. „Einer der Geretteten sagte einem Crewmitglied, er könne an Bord seinen Bruder nicht finden“, berichtet Isler. Einige Crewmitglieder hätten beobachtet, wie ein maskierter Schnellbootfahrer Flüchtlinge unter Wasser drückte. „Wir befürchten, dass der Mann ertrunken ist.“

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