Das Comeback der Ziach

von Redaktion

Sie ist das alpenländische Instrument schlechthin: die diatonische Harmonika. Bei Öllerer in Freilassing wird sie den Kunden auf den Leib geschneidert – per Hand, versteht sich. Wer hier arbeitet, braucht handwerkliches Geschick. Und musikalisches Feuer.

VON KLAUS MERGEL

Freilassing – Es ist, als ob die Werkstatt über die Jahre klammheimlich Besitz vom Gebäude ergriffen hat. Zwar hängt ein Zettel an der Treppe mit einem Pfeil: „Die Musi spielt oben!“ Doch auch im Büro befindet sich neben dem Schreibtisch längst eine Werkbank. Ein Lötkolben, ein paar Feilen und mechanische Kleinteile liegen drauf, an der Seite hängt eine abgegriffene Bohrmaschine. Durchs Haus schallen energische Tremolotöne – ein weiterer Hinweis darauf, woran hier gearbeitet wird: an der diatonischen Knopfharmonika.

Offiziell heißt das Instrument – ohne welches kaum eine Tanzlmusi zwischen Oberstdorf und Bozen auskommt – „wechseltöniges Handzuginstrument“. Manche sagen „Steirische“ – obwohl sie genau genommen gar nichts mit der Steiermark zu tun hat. „Bei uns sagt man Ziach“, erklärt Hans Kirchhofer, Mitgeschäftsführer von Öllerer.

Öllerer – der Name hat unter Volksmusikanten einen Klang wie Fender oder Gibson unter Rockmusikern. Nur, dass die Gitarrenhersteller längst in Fernost produzieren – Öllerer dagegen wird in Handarbeit in Freilassing gebaut. „Wir schneidern das Instrument dem künftigen Besitzer auf den Leib. Das macht für die Massenproduktion keinen Sinn“, sagt der 57-Jährige. Der Ordner mit den Aufträgen ist dick, Hersteller solcher Harmonikas gibt es wenige. Und wer eine Öllerer will, muss mindestens 6000 Euro investieren und ein paar Monate Zeit haben. Dafür hat er dann ein Instrument fast fürs Leben.

1948 wurde die Firma von Georg Öllerer in Freilassings Ortskern gegründet. Der 1991 verstorbene Vollblutmusikant und -handwerker ist in der Firma als Foto überall präsent – sein Enkel Kirchhofer hält das Andenken am Leben. Er kümmert sich um den Instrumentenbau, sein Cousin Georg Öllerer junior leitet als Hauptgeschäftsführer das Gesamtunternehmen mit Musikalienhandel. In den 1970er-Jahren zog die Firma aus Platzgründen um. Der Nutzbau hat jedoch inzwischen die ehrliche Patina einer Manufaktur.

Und das ist Öllerer tatsächlich: eine Manufaktur. Während sich heute viele Hersteller ausgefallener Produkte mit diesem Etikett schmücken und in Wahrheit nicht selten Händler sind, wird die Harmonika bei Öllerer von Hand gemacht. Nur wenige Teile – wie die Klangtrichter oder die Bälge – werden zugekauft. Ansonsten führt jeder Mitarbeiter an seiner Werkbank seine Arbeitsschritte per Hand durch: Jedes einzelne Instrument wandert über jeden Tisch. Der eine fertigt die Gehäuse und bringt das gewünschte Furnierholz auf, ein anderer biegt die Mechaniken und baut sie ein. Und am Ende stimmt der Chef persönlich.

So sitzt Kirchhofer, selbst Handzuginstrumentenmacher und Meister seines Handwerks, im ersten Stock am Stimmtisch. Per Pedal betätigt er einen Blasebalg unten. Oben bläst die Luft in einen Stimmstock – so heißt das Herzstück der Harmonika: Die Stimmzungen darauf schwingen unter Luftzug und erzeugen Töne. Kirchhofer geht mit einer filigranen Feile übers Metall. Abermals pustet der Balg: „Tuuut!“ Kirchhofer lauscht zufrieden. „Richtig präzise kann man den Klang erst im Gehäuse stimmen“, sagt er. „Aber so muss ich die Stimmstöcke statt tausend Mal nur 800 Mal aus- und einbauen.“ Das ist keine Übertreibung: Neben mehreren Reihen auf den Diskantstimmstöcken – für die Melodie – sind auch die Bassstimmen zu stimmen. In einer Öllerer stecken rund hundert Arbeitsstunden.

Fast alle Mitarbeiter spielen auch privat eine Ziach. So auch Christian Amon. Der 52-Jährige aus dem Salzkammergut ist bei Öllerer „Mädchen für alles“. Seit 2003 im Betrieb, Quereinsteiger, der das Hobby zum Beruf gemacht hat. „Aber Musikant, nicht Musiker“, betont er. Er erklärt den Unterschied: „Der Musiker muss spielen, um Frau und Kinder zu ernähren. Und der Musikant muss spielen, weil es seine Leidenschaft ist.“

Amon erklärt, was eine Öllerer-Harmonika einzigartig macht: „Unser Kunde kann sich genau aussuchen, was für ein Instrument er will.“ Zum einen optisch: Soll das Gehäuse mit Olivenholz, Eibe, Nussbaum oder Bergulme furniert sein – oder gar mit Schnitzereien im Massivholz veredelt? Dürfen es Holzknöpfe sein oder Perlmutt? Zum anderen aber: Wie soll das Instrument klingen? Hier wird vor allem das Tremolo bei den Stimmzungen nach Wunsch angepasst. „Der eine mag den Klang im Stil der Oberkrainer: brummig und krachert. Der andere macht Stubenmusi und will es eher zart. Oder im Extremfall: ganz ohne Tremolo – etwa für Advents- oder Wiegenlieder für die kleinen Butzerl“, sagt Amon.

Die diatonische Harmonika ist also enorm vielseitig. In den vergangenen Jahren erlebte sie ein Comeback – und eroberte neue musikalische Genres. Auch durch die Rückbesinnung auf den „Heimatsound“: Bands wie LaBrassBanda, die sich an Volksmusik orientieren und in Dialekt singen. „Es hat auch früher Leute gegeben, die unglaublich gut gespielt haben“, sagt Kirchhofer. „Nur haben die im Wirtshaus oder zur Gaudi gespielt, die traten nie so in die Öffentlichkeit.“ Aber was Kirchhofer feststellen kann: Während früher einfache Leute zu ihm kamen, sind es heute auch Vertreter höherer Schichten: Die Diatonische ist gesellschaftsfähig geworden.

Die Ziach wird im Allgäu, in der Oberpfalz, dem Chiemgau, in Tirol oder auch im Salzkammergut gespielt. Wenn Leute gemütlich zusammensitzen und Lust auf Tanzen bei einem Boarischen oder einer Polka haben. Unter den Öllerer-Mitarbeitern sind viele Ziach-Begeisterte. Zum Beispiel Andi Nöß aus Steingaden (Kreis Weilheim-Schongau). Er lernte erst Schreiner, bevor bei Öllerer die ersehnte Lehrstelle frei wurde. Momentan unterstützt er Christian Wimmer unten in der Schreinerei, wo die Gehäuse entstehen und die edlen Furniere lagern. Nöß ist ein Vollblutmusikant, mit neun Jahren hat er angefangen. Zu Hause spielt er in dem Tanzmusi-Trio „Schreinerbuam“. Und macht in der Blech-Partyband „WambaBrassClub“ den „Ziachara“. Pendelt also ebenso zwischen den Welten. Für ihn, so erklärt der 23-Jährige, sei das mit Hobby und Beruf sehr ausgewogen. So geht es auch vielen seiner Kollegen, berichtet er. „Die Leidenschaft für dieses einzigartige Instrument verbindet uns alle.“

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