Das „schreckliche Mädchen“ kehrt zurück

von Redaktion

GESCHICHTE Die früher angefeindete Historikerin Anna Rosmus stellt in Passau ein neues Buch vor

VON HUBERT DENK

Passau – Fast jeder der zwei Dutzend Frauen und Männer, die am regengrauen Novembervormittag im Passauer Scharfrichterhaus sitzen und der Rede von Anna Rosmus lauschen, sind irgendwie mit der Hauptfigur ihres neuen Buches verbunden. „Geliebt, gejagt und fast vergessen“ hat die Passauer Geschichtsforscherin ihr neues Werk überschrieben. Es ist das 13. Buch von Anna Rosmus, die in den 1980er-Jahren als eine der ersten die NS-Vergangenheit in Passau offenlegte. Damals wurde Rosmus, die mutige Schülerin, die heute in den USA lebt, böse angefeindet. Ihre Geschichte hat Michael Verhoeven 1990 verfilmt – in „Das schreckliche Mädchen“ übernahm Lena Stolze die Hauptrolle.

Nunmehr ist Anna Rosmus für kurze Zeit zurückgekehrt nach Passau und stellt die Geschichte von Hildegard Schnabelmaier (1890-1974) vor. An ihrer Seite sitzt der aus New York angereiste Robert Hess, Jahrgang 1971, mit seiner Ehefrau Ann. Er ist der Enkel der Protagonistin. „Erst als ich 30 war, habe ich erfahren, dass meine Großmutti Jüdin war“, erzählt er. Den Kinofilm „Das schreckliche Mädchen“ hatte er 1990 gesehen und sich das Rosmus-Buch „Out of Passau“ gekauft. Aber er konnte nicht ahnen, dass drei Jahrzehnte später er und seine Vorfahren einmal selbst im Mittelpunkt eines Buches dieser Geschichtsforscherin stehen würden. In diesem Februar fand das erste persönliche Treffen statt. „Hess konnte wichtige Dokumente und Fotos beisteuern, die mir bis dahin gefehlt haben“, sagt Rosmus. „Gewidmet all jenen, welche unschuldig Verfolgten beherzt zur Seite standen“, erklärt der Untertitel des Buches.

Hildegard Schnabelmaier, die Jüdin aus der niederbayerischen Donaustadt Vilshofen, hatte es zuletzt mit Hilfe wildfremder Mitmenschen geschafft, zu überleben. In zerbombten Münchner Kellern war manchmal der nackte Boden ihre Schlafstätte. Nahezu dramatisch war, wie ihr Ehemann in den letzten sechs Monaten bis zum Zusammenbruch des Naziregimes seinen Schergen entkam. Der Vilshofener Chefarzt hatte sich den Zorn der Nazis zugezogen, weil er sich von seiner jüdischen Ehefrau nicht trennen wollte. Sie beschlagnahmten sein Vermögen, beraubten ihn seines Postens, belegten ihn mit Berufsverbot und zwangen ihn zum „Arbeitseinsatz“ im Konzentrationslager Theresienstadt. Er überlebte schließlich im Nymphenburger Krankenhaus als „falscher Patient“. Sein ehemaliger Lehrherr und Kollege, Krankenhausdirektor Professor Dr. Carl Schindler, hatte ihn unter dem Vorwand, er sei Patient, in seiner Klinik aufgenommen und bis zu Befreiung durch die Alliierten behalten.

Welches Risiko der Münchner Krankenhausdirektor auf sich genommen hat, schildert Rosmus bei der Buchvorstellung. Hochrangige Militärs wurden in Nymphenburg behandelt, Hitler sei deshalb des Öfteren persönlich zur Visite gekommen. Diesem Dr. Schindler von Nymphenburg gebühre die Auszeichnung eines „Retters“.

Die Stimme des 88-jährigem Erich Stecher aus Grafenau, der das Buch verlegt hat, versagte bei der Dankesrede an Rosmus. Auch ihn verbindet eine sehr persönliche Geschichte mit Chefarzt Schnabelmeier. Er verdankt diesem Chirurgen sein Leben. 1938, als Siebenjähriger, hatte Stecher einen Blinddarmdurchbruch erlitten. Der todkranke Bub hatte vom Pfarrer die Krankensalbung erhalten, da stellte Schnabelmaier an einem Pfingstmontag ein OP-Team zur Notoperation zusammen.

Die unschuldig Verfolgten gebe es auch heute wieder, schlägt Rosmus einen Bogen zur Gegenwart und spielt auf die Flüchtlinge an. Beim Besuch eines Passauer Gymnasiums ist sie von den Schülerinnen auf den Rechtsruck in der Gesellschaft angesprochen worden. „Was kann man tun?“, wurde sie gefragt. Die Antwort findet ihr in meinem Buch, hat sie darauf geantwortet. Kleine, menschliche Gesten seien das wirksamste Mittel gegen Ausgrenzung. Die Isolation sei für die jüdischen Bürger, selbst nach Kriegsende, das Schlimmste gewesen, erzählt sie von den Erfahrungen ihrer Recherchen. Sie nennt ihr Rezept gegen Rechtsruck und Verfolgung schlicht „Nächstenliebe“. Diese beginne bei der Einladung zu einer Tasse Tee.

Das Buch

„Geliebt, gejagt und fast vergessen“, erschienen im Samples-Stecher Verlag, mit Vorworten von Eike Hallitzky und Abt Wolfgang Hagl, 80 S., 79 Abbildungen, 24,90 Euro

Artikel 10 von 11