München – Gregor W. lässt sich Zeit. Als der fettleibige Mann vom Zellentrakt zur Anklagebank geht, hält er den Kopf gesenkt. Eine Wand aus Kameras und Blitzlichtern empfängt den 38-Jährigen im Sitzungssaal A 101 des Landgerichts München I. Auf seinem Platz saß einst schon die Rechtsextremistin Beate Zschäpe.
Der Mann, gekleidet in eine hellblaue Stickjacke mit Reißverschluss und Rautenmuster sowie in ein Polohemd mit breiten Querstreifen in verschiedenen Blautönen, sagt wenig bis nichts. „Mein Mandant macht derzeit keine Angaben“, beeilt sich seine Verteidigerin Birgit Schwerdt zu sagen. „Sie können es sich noch anders überlegen“, richtet sich die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl an ihn. Doch der Mann schweigt. Über eine Stunde hat er zuvor der Verlesung und Übersetzung der Anklage gelauscht. Regungslos lässt der gelernte Mechaniker die Mordvorwürfe über sich ergehen. Den Kopf stützt er mitunter in eine Hand.
Was die beiden Staatsanwältinnen abwechselnd vortragen, gleicht der Horrorvorstellung eines jeden älteren Menschen für den Lebensabend. Statt seine Patienten aufopferungsvoll zu betreuen, hatte er ihnen Insulin gespritzt, obwohl sie – im Gegensatz zu ihm – keine Diabetiker waren. Nicht alle alten Menschen überlebten diese Attacken. Sie bescherten dem Pfleger jedoch Zeit, die Wohnungen zu durchsuchen.
Gregor W. hatte sich nach jahrelanger Haft wegen Betrugsdelikten in einem 120-Stunden-Kursus zum Hilfspfleger ausbilden lassen. Er arbeitete in ganz Deutschland. Doch der Beruf erfüllte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Er scheute die Arbeit, stand sich selbst im Weg und hasste es, wenn er um seinen Mittags- oder Nachtschlaf gebracht wurde. Deshalb griff er auch mitunter zu rigorosen Maßnahmen, um nicht arbeiten zu müssen. Mal deaktivierte er einen Notrufknopf, mal verabreichte er seinem Patienten ein starkes Schlafmittel. Schon als junger Mensch hatte er sich lieber durchs Leben treiben lassen, als sich aufzuraffen und Freunde zu finden. Ihm ging es vorrangig ums Schlafen und Essen – an Sex war er weniger interessiert. Eine Beziehung führte er nicht. All diese Informationen erfahren die Prozessteilnehmer und Zuhörer über den Psychiater. Er berichtet über die Untersuchung des Mannes, zu der auch das Abfragen des Lebenslaufes zählte. Der persönlichen Einschätzung zufolge hatte der Angeklagte keine sehr gute Kindheit. Er hielt sich gene daheim auf, obwohl er von der Mutter regelmäßig Schläge mit einem Kabel kassierte. Die Schule mochte er nicht. Mit 13 Jahren begann er zu stehlen. Er kam ins „Erziehungsheim“, irgendwann gelang es ihm, die Ausbildung abzuschließen. Doch dann schlug seine kriminelle Seite zu, die in der schrecklichen Seniorenmord-Serie gipfelte.
„Es tut ihm wirklich leid, es geht um den Mord an alten Menschen, er habe keine Worte dafür“, gibt der Psychiater dem Angeklagten eine Stimme. Der 38-Jährige bereue Geschehenes zutiefst und er rechne mit einer lebenslangen Haftstrafe, führt der Psychiater weiter aus. Die Sache sei für ihn verloren, so die Einschätzung des Angeklagten. Seine Verteidigerin bemühe sich zu wenig um ihn, hatte er dem Psychiater gesagt. Dabei hatte die Anwältin ihrem Mandanten sogar neue Kleidung für den Prozess besorgt. Zu seinen in Polen lebenden Eltern hat er aktuell keinen Kontakt, Mutter und Vater wissen aber von den Mordvorwürfen.
Da der Angeklagte schweigt, muss das Gericht jeden Fall genau aufrollen. Dafür wird am Nachmittag ein Kriminaler vernommen. Ihm gegenüber soll der 38-Jährige die Taten eingeräumt haben. In Ottobrunn (Landkreis München) war er im Februar vergangenen Jahres festgenommen worden. Die Polizeibeamten machten damals alles richtig, sie ließen den Pfleger nicht laufen. Er hatte bereits auf gepackten Koffern gesessen. Der Tod eines Patienten erlaubte ihm die sofortige Kündigung. Auch aus diesem Grund hatte er die alten Menschen mit dem Insulin vergiftet.
Dem Prozess haben sich 13 Angehörige der Opfer samt Anwälten als Nebenkläger angeschlossen. Sie wollen vor allem wissen, warum Gregor W. nicht früher gestoppt werden konnte. Und tatsächlich waren Polizei und Staatsanwaltschaft München II im Sommer 2017 schon auf der richtigen Spur, nachdem in Weilheim ein 82-Jähriger die Insulin-Attacke nur knapp überlebte. Doch München musste sämtliche Ermittlungen nach Duisburg (Nordrhein-Westfalen) abgeben. Und dort passierte nichts. Der Prozess, terminiert bis Mai 2020, wird heute fortgesetzt.