Kurgeschichten aus dem Isarwinkel

von Redaktion

Gehört Bad Tölz zur ersten Garde der bayerischen Kurorte? „Natürlich“, sagt Christoph Schnitzer. „Rare Fotos, vergessene Geschichte(n)“ nennt der Redakteur des Tölzer Kuriers und Ortshistoriker sein neues Buch – und tritt den historischen Beweis für den Stellenwert seiner Heimatstadt an.

VON HANS STAAR

War die österreichische Kaiserin Sisi zu Besuch in Tölz? Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Christoph Schnitzers Recherchen in den Archiven der 156 Jahre alten Lokalzeitung und im bestens bestückten Tölzer Stadtarchiv von Sebastian Lindmeyr haben immerhin ergeben, dass Sisi als 16-jährige Prinzessinnenbraut im Tölzer Bürgerbräu Station gemacht hat. Eine Honoratiorin sah sie und wollte dieses Erlebnis, das sie ein Leben lang begleitet hatte, unbedingt der Zeitung erzählen, als die Kaiserin 1898 ermordet wurde. Vor allem vom „wundervollen Haar“ schwärmte die Tölzerin.

Es ist das Konzept des Buches, Geschichten zu erzählen und ausgesuchte historische Aufnahmen dazuzustellen. Im Fall „Sisi“ ein Bild des alten Bürgerbräus. Was man dann gleich dazu erzählen konnte: Gabriel von Seidl, Architekt des Deutschen Museums, wandelte diesen Bürgerbräu 1903 zum Rathaus und architektonischen Kleinod um. Die Touristen stehen heute staunend davor und knipsen und wandern durch das schöne Stadtmuseum.

Von Sisi weiß (bisher) niemand. Auch nicht von Karl May, der einen Doppelgänger hatte, der sich 1899 ins Hotelbuch des Bürgerbräus eintragen ließ. Just zu dem Zeitpunkt, als May tatsächlich auf Orientreise war. Mit Hilfe dieser „gefälschten“ Unterschrift entfachte die Frankfurter Zeitung eine Pressekampagne gegen den beliebten Volksschriftsteller und fragte spöttisch, ob der Araberstamm der Haddedihn wohl gar im Isarwinkel hause.

May, der die meisten seiner Abenteuerreisen erfunden hatte, musste sich juristisch zur Wehr setzen und erzwang einen Widerruf. Und Tölz gewann einen neuen Gast. May reiste später selbst an die Isar, weil er den „Tatort“ sehen wollte. Noch Jahrzehnte danach staunte sein Kutscher über den spendablen Fahrgast: „Goldstückeln hat der Mann g’habt, alle Taschen voll Goldstückeln.“

Zurück zu Sisi: Sie war genau wie Märchenkönig Ludwig II. nur auf Durchreise in Tölz. Dafür war Sisis Schwester, die Prinzessin Mathilde, ein echter Kurgast. Vermutlich wegen ihrer schwer kranken Tochter, der Fürstin Maria-Theresia von Hohenzollern, suchte sie Heilung bei den berühmten Tölzer Jodquellen. Der verheirateten Gräfin Trani gefiel es so gut in Tölz, dass sie sich 1899 ein Haus am Ortsrand kaufte und dort gerne die Hautevolee und den Hochadel empfing.

Auch Verwandtschaft aus dem österreichischen Kaiserhaus – allerdings nicht Sisi –kam und amüsierte sich über das Pseudonym, das sich die Gräfin auf Reisen zugelegt hatte. „Fräulein Schmidt“, nannte sie sich da gerne. Fräulein Schmidt war ihre Hofdame. In Tölz, auch das eine nette Anekdote, hatte Sisis Schwester schon ein Grab am neuen Waldfriedhof gekauft. Bestattet wurde sie 1925 jedoch in München – neben der inzwischen in den Adelsstand erhobenen Nelly von Schmidt.

Mark Twain kurte fünf Wochen lang mit seiner herzkranken Frau Olivia in Tölz. Erkannt hat ihn keiner, denn er firmierte unter seinem bürgerlichen Namen Samuel Clemens in den sorgfältig geführten und erhaltenen Fremdenlisten. Twain war von den Bergen und der kräftigenden Luft entzückt. „Livy macht gehörige Fortschritte“, schrieb er an seinen Bruder. Und er ärgerte sich über die bayerischen Federbetten. „Man wird darunter geröstet, man friert, wenn man sie wegwirft.“

Der berühmte Lyriker Stefan George staunte in Tölz über das „kosmische Fett“ der „Dötzerin“, der Gastwirtin einer – man beachte – um 1912 „vegetarischen Pension“. Das Fürstenpaar Bismarck übernachtete im Kurhotel. Und Lady Chatterley alias Frieda von Richthofen logierte mit ihrem Liebhaber D. H. Lawrence auf der Fußwanderung nach Italien in der Pension „Daheim“ in der Tölzer Marktstraße sowie später in einem Heuschober am Fuß des Schönbergs. Erotisch war das bestimmt nicht.

Und warum baute sich der große Thomas Mann 1908 ausgerechnet in Tölz eine Landvilla? Es ist laut Mann-Kenner und Co-Autor Martin Hake weltweit das einzige Mann-Haus, das noch weitgehend im Urzustand erhalten ist. Der Grund: Es wird von Klosterschwestern bewohnt, die es unberührt vom Zeitgeist hegen und pflegen. Hake erklärt in dem Buch erstmals, wie der Buddenbrooks-Autor schon viele Jahre zuvor Tölz als Urlaubsort kennen- und schätzen gelernt hat.

Auch Sohn Klaus hat Tölz literarisch verewigt. Golo Mann und Elisabeth Mann, die anderen Geschwister, besuchten später ebenfalls regelmäßig die Stätten ihrer Kindheit. Ein Mann-Gedenkweg erinnert heute an diese berühmten Tölzer.

Es geht natürlich nicht nur um Kurgäste in dem 164 Seiten starken Buch mit 290 Bildern. Geschichte und Geschichten erzählen ist das Motto des Werks, für das viele Tölzer Bürger ihre Schatztruhen geöffnet haben. Dank der akribischen Recherchen werden vergessene Episoden aus der Isarstadt wieder lebendig. Die Ankunft der ersten Luftschiffe etwa, die für Furore sorgten. „Parseval VI“ glitt 1910 aber nicht zufällig majestätisch über die Stadt. Man war damals schon geschäftstüchtig. Der Magistrat der Kurstadt hatte nachgeholfen und dafür bezahlt. Interessantes Detail: Die Luftschiffe, „Gummikuh“ genannt, konnten – clever, clever – nachts von unten per Diaprojektor mit Werbeinschriften angeleuchtet werden.

Die Autoren Christoph Schnitzer, Martin Hake, Sebastian Lindmeyr und Gisbert Pohl erzählen auch vom Kirchenleben der alten Zeit in einer Stadt wie Bad Tölz. Keine spröden Innenaufnahmen der Gotteshäuser werden gezeigt. Nein, die Franziskaner, die erst 2008 ihr Kloster in Tölz geschlossen haben, spielen Theater und wandern auf den Berg. Es sind hinreißende Bilder, die da zu sehen sind.

„Bilder erzählen oft ganze Romane“, sagt Schnitzer. Eine seiner Lieblingsaufnahmen in dem Buch stammt aus dem Jahr 1917 und zeigt den Jaklbauern von Fischbach-Thal. Zu sehen ist der Bauer Josef Singer, als er seinen wohlgenährten Ochsen zum Tölzer Schlachthof bringt. 1917 war kurz vor Weltkriegsende. Man kann ermessen, was für ungeheurer Aufwand auf dem Hof getrieben worden sein muss, dass der Ochse so wohlgenährt in Tölz ankam.

Singers Enkel Edi aus Kirchbichl bei Tölz erzählt, dass sein Vater und dessen Brüder den Karren mit Holz selbst mühselig ziehen mussten, „damit nur ja der Ochs kein Gramm Fleisch verliert“. Kein Wunder, dass der Jaklbauer sein bestes Gwand anzog, als er den Ochsen zum Schlachten brachte. Er trägt einen Havelock, ein eigentlich durch und durch städtisches Kleidungsstück. Neben dem arglos blickenden Ochsen steht der Schlachtergeselle mit seinem mächtigen Beil und blickt selbstbewusst, ja stolz in die Kamera.

Ein Stadtplan mit Nummern und aktuelle Gegenaufnahmen erleichtern die Orientierung und Suche nach den Objekten im heutigen Tölz. Bei einem Buchabschnitt werden sich die Leser aber dennoch etwas schwerer tun. Die Autoren haben sich nämlich den Spaß gemacht, ein Kapitel mit verfälschten Aufnahmen einzufügen.

Die Fotografen der alten Zeit waren nämlich nicht zimperlich, wenn es um eine Präzisierung oder Betonung eines Bildinhalts ging. Ihr Handwerk verstanden sie. So kann man in dem Buch bestaunen, wie das Gebirgspanorama am Horizont schweizerische Hochalpin-Dimensionen angenommen hat. Der Fotograf hatte den Berg-Hintergrund einfach ein Stück herangezoomt. Strommasten werden im Stadtbild verlegt und wirken plötzlich wie Fernsehtürme. Und der Tölzer Bürgermeister ließ sich geschickt in ein Gruppenbild mit Prinzregent Luitpold und Prinz Ludwig hineinkopieren.

Auf einer Fotopostkarte der Marktstraße waren hinten sogar noch die akkuraten Anweisungen an den Bildbearbeiter zu lesen. Er möge doch bitte die Fenster im ersten Stock schließen und die Fresken auffrischen. Das gelang dem Manne noch ganz gut. Den Handkarren, den er vor dem Haus verschwinden lassen sollte, sieht man allerdings noch schemenhaft dastehen. Auch in der guten, alten Zeit war also nicht alles Gold, was glänzt.

Das Buch

„Bad Tölz – Rare Fotos und vergessene Geschichte(n) bis 1920“ kostet 22,80 Euro und ist im Tölzer Buchhandel sowie zuzüglich Porto bei cs@cs-press.de oder unter www.isarfloesser.de erhältlich.

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