München – Maria* wird wählen am 15. März. Und dass die 24-Jährige aus Fürth das darf, ist leider nicht selbstverständlich. Denn sie ist mit Down-Syndrom zur Welt gekommen. Menschen mit Behinderung, die unter gesetzlicher Betreuung stehen, dürfen bei der Kommunalwahl erstmals ihre Stimme abgeben. Bisher waren sie genau wie psychisch Kranke oder strafunfähige Täter im Maßregelvollzug von der Wahl ausgeschlossen – bis das Bundesverfassungsgericht im April 2019 ein Machtwort gesprochen hatte.
Für Maria ist es allerdings nicht die erste Wahl – weil ihre Eltern beim Betreuungsgericht angegeben hatten, dass sie nur in fast allen Bereichen Betreuung braucht. Dem kleinen Wort „fast“ verdankt sie, dass sie etwas darf, was in einer Demokratie zu den Grundrechten gehört.
Nicht nur ihren Eltern war das wichtig – sondern auch Maria. „Unsere Tochter schaut oft mit uns die Nachrichten und politische Sendungen“, sagt ihr Vater Jürgen Baumann*. Er erklärt ihr viel. „Sie hat ihre eigene Sichtweise, aber sie kennt einige Politiker.“ Zum Beispiel Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Der hatte vor vielen Jahren zusammen mit dem Fürther OB Thomas Jung Marias Inklusionsklasse besucht. „Das hat sie sich gemerkt“, sagt ihr Vater.
Ihre Eltern haben ihr erklärt, wofür die Parteien eintreten. Alle Parteiprogramme in leichter Sprache zu lesen würde die 24-Jährige überfordern, glaubt er. Gemeinsam haben die Baumanns die Briefwahlunterlagen beantragt. „Damit Maria Zeit hat, sich den Wahlzettel genau anzuschauen.“ Er ist überzeugt: „Wenn Maria nicht wählen dürfte, würde sie das sehr treffen. Sie würde sich ausgeschlossen fühlen.“
Und das würde nicht nur Maria so gehen, betont Jan Gerspach, der beim Sozialverband VdK das Ressort „Leben mit Behinderung“ leitet. „Es war ein ganz klarer Verstoß gegen die Menschenrechte, dass Menschen mit Vollbetreuung bisher nicht wählen durften“, sagt er. Schon bei der Europawahl hätten sich einige Betroffene noch kurzfristig in die Wahlregister eintragen lassen, für die meisten sei die Kommunalwahl nun aber die erste. „Grundsätzlich müssen alle die Möglichkeit bekommen, in die Wahlkabine zu gehen“, erklärt Gerspach. Sie können dort auch Wahlhelfer um Unterstützung bitten. Er geht aber davon aus, dass viele Betroffene Briefwahl beantragen werden. Als Hilfe gibt es auch eine Wahlanleitung des Behindertenbeauftragten und der Landeszentrale für politische Bildung. Und auch über das VdK-Beratungstelefon kommen gerade viele Anfragen, berichtet er.
Die VdK-Präsidentin Verena Bentele fordert allerdings, dass auch von den Parteien viel mehr getan werden muss, um Menschen mit Behinderung die Wahl zu erleichtern. „Zum Beispiel müssten politische Veranstaltungen auch in Gebärdensprache übersetzt werden“, betont sie. Auch was leicht verständliche Wahlprogramme angeht, sei noch nicht genug passiert. Es gibt sie zwar schon teilweise – aber nicht für alle Parteien und nicht auf regionaler Ebene. „Es wäre aber überall möglich, einfachere Worte zu finden“, sagt Bentele. „Und davon würden übrigens alle Menschen profitieren. Aber die Parteien wären dann an ihren Versprechen auch stärker messbar.“ Sie glaubt allerdings, dass es eher am fehlenden Bewusstsein liegt, dass das noch nicht passiert ist. „Die Parteien müssen sich noch mehr anstrengen, um auch Menschen mit Behinderung zu erreichen“, fordert sie. „Die Stimmen sind schließlich gleichwertig.“
Und es sind nicht wenige Stimmen. Durch das neue Gesetz dürfen bundesweit 85 000 Menschen wählen, die vorher nicht das Recht dazu hatten. 19 700 davon leben in Bayern. Das sind nicht nur behinderte Menschen mit Vollbetreuung. Sondern auch im Maßregelvollzug untergebrachte psychisch kranke und schuldunfähige Straftäter. Sie können per Briefwahl wählen oder – sollten sie Ausgang haben – auch im Wahllokal. Entsprechende Infoschreiben seien in den Forensik-Stationen ausgehängt und auch mit den Patienten besprochen worden, berichtet eine Sprecherin des Bezirks Oberbayern.
Psychiatrie-Patienten hingegen sind von dem neuen Gesetz nicht betroffen. Sie durften auch vorher schon wählen. Auf dem Gelände des kbo-Isar-Amper-Klinikums in Haar (Kreis München) gibt es deshalb ein eigenes Wahllokal, erklärt der Ärztliche Direktor Peter Brieger. Aus seiner Erfahrung nimmt der Großteil der Patienten nicht an der Wahl teil. „Aber das ist ihre Entscheidung. Das Recht dazu wird ihnen nicht genommen.“
Die Debatte, ob Menschen mit geistiger Behinderung oder psychisch Kranke zu einer politischen Wahlentscheidung überhaupt in der Lage seien, hält VdK-Präsidentin Bentele für den völlig falschen Ansatz. Schließlich werde niemand verpflichtet, zu wählen, sagt sie. „Aber die Menschen, die sich informieren und mitentscheiden möchten, müssen die Chance dazu kriegen.“ Und bei Menschen ohne Behinderung werde schließlich auch nicht die Frage gestellt, ob sie sich ausreichend informiert haben vor der Wahl, betont sie. *Namen geändert